"Panne - oder Vorsatz?"
Beim Lesen von Büchern über die grausamen Verbrechen des Nationalsozialistischen Regimes (beispielsweise Andrej Angrick: Besatzungspolitik und Massenmord, Martin Pollack: Der Tote im Bunker, Jörg Friedrich: Das Gesetz des Krieges oder David Cesarani: Adolf Eichmann) stellt sich immer wieder die Frage nach den Gründen für die vergleichsweise nur geringe Anzahl an Angeklagten und vor allem Verurteilten, insbesondere im Bereich der sogenannten "Schreibtischtätern", beispielsweise im Bereich des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA).
Aufklärung zu diesem geschichtspolitisch enorm bedeutsamen Thema liefert dazu die kürzlich erschienen Dissertation von Marc von Miquel. Am 10. Mai 1968 verabschiedete der Bundestag einstimmig das "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeiten-Gesetz". Die Folge: Das eigentlich für die Verjährung von Bagatellestrafen vorgesehene Gesetz hatte gravierende Auswirkungen auf die Ahndung von Verbrechen im Dritten Reich. Alle Vorwürfe wegen Beihilfe zu Massenmord und Vernichtungspolitik verjährten bereits am 9. Mai 1960. Diese Interpretation bestätigte der Bundesgerichtshof im Mai 1969.
In seiner Konsequenz wurden alle Verfahren gegen ehemalige "Schreibtischtäter" im Reichssicherheitshauptamt erst gar nicht eröffnet oder eingestellt. So hat man zwar noch am 5. Mai 1969 den sogenannte Gestapo-Prozeß eröffnet, da aber keine direkte Mittäterschaft der Angeklagten vorlag, wurde dieser nach dem Urteil des Bundesgerichtshof notgedrungen wieder eingestellt. Insgesamt dürften mindestens 300 Beschuldigte von dem Paragraphen 50, Absatz 2 Strafgesetzbuch profitiert haben.
Bereits kurz nach der Proklamation des neuen Gesetzes wurden Stimmen laut, die das Gesetz nicht nur als peinliche "Panne" bezeichneten, sondern den Initiatoren dieses Gesetzes, den Juristen um den lange für die Vorbereitung dieses Gesetzes verantwortlichen Eduard Dreher, Vorsatz vorwarfen, um ihrerseits selbst von der Amnestie zu profitieren.
Auch wenn von Miquel nicht den endgültigen Beweis für diese These liefern kann, seine Untersuchungen und Dokumentenfunde machen den Vorsatz zur "kalten Verjährung" mehr als nur wahrscheinlich. Leidet das erste Kapitel (Justiz und NS Vergangenheit 1957 bis 1965) noch unter der Bezugnahme unzuverlässiger Quellen (Propagandaschriften des DDR Regimes in der sogenannten "Blutrichter-Kampagne"), bietet das Buch in den folgenden Kapitel chronologisch detailgenaue Informationen über die Verjährungsdebatten in den 60er Jahren (1964/65 oder 1968/69).
Besonders interessant sind dabei auch seine Ausführungen zur Einflussnahme ausländischer Regierungen, aber auch Nichtregierungsorganisationen (beispielsweise des Jüdischen Weltkongresses) auf die Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag. Erst auf massiven Druck von Außen wurde zum Beispiel das beabsichtigte Inkrafttreten der Verjährung 1965 gestoppt.
Ebenso wie viele weitere Eliten des "Dritten Reiches", konnten auch Richter nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland im nun demokratischen Justizwesen eine neue Karriere beginnen - und das obwohl sie im Bereich der nationalsozialistischen Gerichtsbarkeit (wenn man davon überhaupt sprechen kann) in irgendeiner Art und Weise an Deportationen und an Todesurteilen beteiligt waren. Auch wenn bereits 1960 im Zuge der "Blutrichter-Kampagne" der wichtigste Impuls gegeben wurde, eine tiefergehende Betrachtung und Diskussion wurde nie geführt. Somit kann eine genaue Beurteilung der Rolle der beschuldigten Juristen erst nach Offenlegung ihrer Personalakten erfolgen - was allerdings nur mit Zustimmung der Betroffenen möglich wäre.
Fazit: Insgesamt ein Buch, welches aufgrund seiner Fülle an notwendigen Dokumentenbelegen in den Fußnoten und der hohen Anzahl an Protagonisten der vermeintlichen "Panne" nicht ganz einfach zu lesen ist - aber die gewonnenen und dargelegten Erkenntnisse machen es allemal zu einem zu einem "Muß" für Geschichtsinteressierte.
Andreas Pickel
© 2004 Andreas Pickel, Harald Kloth