Fast auf den Tag genau 15 Jahre nach Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde am 11. Mai 1960 Karl Adolf Eichmann von Agenten des Mossad in Argentinien arretiert, mangels eines Auslieferungsabkommen zwischen Israel und Argentinien nach Israel entführt, dort wegen Verbrechen gegen das israelische Volk angeklagt und in zwei Instanzen zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 1. Juni 1962 vollstreckt. Soweit die Fakten. Doch wer verbarg sich hinter dieser hageren, während des Prozesses fast unterwürfig wirkenden Figur wirklich? War er wirklich die Banalität des Bösen, wie in Hannah Arendt im Untertitel ihres 1964 erschienen und als Diktum geltenden Buches Eichmann in Jerusalem bezeichnete?
Nachdem sich fast 40 Jahre kein Autor an die Person Eichmanns heranwagte, hat nun David Cesarani mit dem Buch Adolf Eichmann - Bürokrat und Massenmörder die erste umfassende Eichmann-Biografie vorgelegt und kommt zu neuen, zum Teil bedeutsamen Erkenntnissen. Nach den nachdenklich stimmenden Kapiteln in Andrej Angrick´s monumentalem und erschütterndem Werk Besatzungspolitik und Massenmord aus meiner Sicht erneut ein Meilenstein für die Aufarbeitung von NS-Täterprofilen, hier beispielgebend dargestellt an einem Protagonisten des Holocaust.
Karl Adolf Eichmann in Österreich geboren und aufgewachsen war zunächst als Vertreter für eine Elektrofirma und einer Mineralölfirma tätig, trat 1927 dem deutsch-österreichischem Frontkämpferbund bei und erst auf Drängen von Ernst Kaltenbrunner (war später nach der Ermordung von Heydrich 1943 Chef des Sicherheitsdienstes (SD) und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), trat er 1932 in die österreichische NSDAP und der Schutzstaffel (SS) bei. Als diese in Österreich verboten wurden, ging er als Mitglied des Sicherheitsdienstes (SD) nach Bayern. Ab 1934 als Referent des Referates Juden im Sicherheitsdiensthauptamtes in Berlin, wurde er mehr und mehr einer der wichtigsten Räder in Hitler´s Vernichtungsmaschinerie (den er übrigens nie persönlich getroffen haben soll).
Nach Aufbau der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, übernahm er Ende 1939 die Leitung der Referates Auswanderung und Räumung beim Reichssicherheitshauptamtes in Berlin. Bei der Wannseekonferenz im Januar 1942, bei der die Endlösung der Juden beschlossen wurde, editierte er das Protokoll und war seit dem unbestreitbar einer der Hauptverantwortlichen der Deportation von Millionen von Juden in Ghettos und Konzentrationslager. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges tauchte er nach Flucht aus einem amerikanischen Internierungslager zunächst im Nachkriegsdeutschland unter und floh schließlich 1950 mit Hilfe des Vatikans (sic!) über Italien nach Argentinien.
Cesarani´s Abgrenzung zu bisher erschienenen Abhandlungen zur Person Eichmanns liegt in seiner Entdämonisierung, die Widerlegung bisheriger Darstellungen, ihn auf eine Stufe mit Hitler oder Stalin zu stellen. War der junge Adolf Eichmann noch antisemitisch unauffällig, wurde er erst mit steigender Verantwortung immer mehr besessen von seiner Aufgabe, ständig sein Talent für das Organisieren weiterentwickelnd. Die Beschreibung, wie ein an sich normaler, streng christlich erzogener Mensch zu so aberwitzigen Plänen und Maßnahmen fähig wurde, macht nachdenklich. Auch die lange gehaltene These, Eichmann wäre nur ein Schreibtischtäter (das aber par Excellenze) gewesen widerlegt der Autor nachhaltig, darstellend, wie Eichmann sich vor Ort der Gräueltaten ein Bild von der Lage machte, um seine Vernichtungsmethoden und seine Umsetzung zu inspizieren und zu perfektionieren.
Zu Recht bezeichnet Cesarani Eichmann so nicht als Initiator, als die Zentrale des Holocaust, aber als den Manager des Völkermords (Kapitel 5). Spätestens nach der Wannseekonferenz war er in deren Umsetzung bis Ende des Krieges das Scharnier zwischen Planung sowie Organisation und grausamster Durchführung der industriellen Vernichtung von Menschen.
Besonders fesselnd ist der letzte Teil des Buches, wenn das Leben auf der Flucht nach 1945 beschrieben wird. Detailliert werden die engen Verflechtungen ehemaliger nationalsozialistischer Täter, der Kirche und des diktatorischen Regimes von Perons Argentinien beschrieben. Auch die traurige Tatsache des nur unzureichenden Interesses der eigentlich rechtsstaatlichen Nachkriegsregierungen an der Habhaftmachung und Verurteilung nationalsozialistischer Verbrecher kommt kritisch zur Anmerkung (siehe dazu auch Marc von Miquel Ahnden oder Amnestieren?)
Fazit: Auch wenn das Buch aufgrund der im Mittelpunkt stehenden Person Eichmanns den komplexen gesamtpolitischen und -organisatorischen Zusammenhang der Vernichtungspolitik etwas vernachlässigt (vernachlässigen muss?), insgesamt ein für geschichtsinteressierte sehr empfehlenswertes Werk, was mehr bietet, als nur eine übliche Biografie. Es beschreibt nachhaltig die Entwicklung eines Normalbürgers zum Täter, der übrigens bis zuletzt darauf beharrte, unschuldig zu sein und nie Reue über seine Taten zeigte, zeigt auf, was Macht und Machtbesessenheit aus einem Menschen werden lässt, und spart auch das heikle Thema von Vertuschung und Bagatellisierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Problematik einer aufrechten Vergangenheitsbewältigung nicht aus.
Andreas Pickel
© 2005 Andreas Pickel, Harald Kloth