90 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen eine große Anzahl von Neupublikationen, die sich mehr oder weniger umfangreich mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ auseinandersetzen. Herausstechend ist dabei aus meiner Sicht das nur knapp 120 Seiten dicke Buch von Volker Berghahn Der Erste Weltkrieg aus dem Beck Verlag. Auf dem absolut neuesten Forschungsstand beschreibt der Autor dieses äußerst komplexe Thema auf nur wenigen Seiten ohne auf die Abhandlung wesentlicher Aspekte verzichten zu müssen.
Neben einigen sehr interessanten Fakten zu Beginn des Buches, behandelt es neben den wesentlichen operativen und strategischen militärischen Entwicklungen und der Sicht des Krieges „von oben“ also aus Sicht der Führungseliten auch den Blickwinkel „von unten“, also der der Daheimgebliebenen und der Frontsoldaten. So brachte der Erste Weltkrieg erhebliche Veränderungen der sozialen Lage und Situation der Bevölkerung in Deutschland mit sich. Bei seinem Beginn im August 1914 war keine lange Dauer des Krieges erwartet worden. Man ging im Gegenteil davon aus, dass die Soldaten an Weihnachten wieder zu Hause wären. Niemand ahnte 1914 auch nur entfernt, dass der Krieg im Westen ein „langes blutiges Schlammbad, das eine ganze Generation junger Leute auslöschen sollte“ (Craig) werden würde. Der langwierige Stellungskrieg vernichtete neben dem Leben unzähliger Soldaten auch enorme wirtschaftliche Ressourcen, die der Heimat entzogen wurden, war der Erste Weltkrieg doch von vorneherein ein Wirtschaftskrieg, in dem die nach Kriegsbeginn einsetzende Festlandsblockade und ihre Folgen im deutschen Reich die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu zentralen Problemen machte.
Auch der wesentliche Aspekt der Kriegszielpolitik kommt in dem Buch nicht zu kurz. Die Frage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit dem Alleinschuldigen Deutschland gehört zu den umstrittensten Problemen, die die wissenschaftliche Forschung über den Ersten Weltkrieg kennt und die bis heute nicht restlos geklärt ist. Nachdem zunächst im Artikel 231 des Versailler Vertrages den Mittelmächten und vor allem Deutschland die alleinige moralische und juristische Kriegsschuld zugeschrieben wurde, in Deutschland selbst jedoch dass Gefühl obsiegte, in Notwehr vor der heranrollenden russischen "Dampfwalze" gehandelt zu haben, vertraten dann lange Zeit alle namhaften Historikern die Aussage des englischen Kriegspremiers Lloyed Georges: „Wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert“. Erst der Hamburger Historiker Fritz Fischer wagte es Anfang der 60er Jahre mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht an dieser These zu rütteln und das historische Establishment zu erschüttern.
Auch wenn die Thesen Fischers teilweise widerlegt wurde, war der Erste Weltkrieg jedoch in der Tat in mancher Hinsicht ein „Griff nach der Weltmacht“ und ein „Krieg der Illusionen“, ein mit expansiven und annexionistischen Kriegszielen von vielen geforderter Kampf um die Etablierung Deutschlands im Konzert der Großmächte, der Schaffung eines Imperium Germanicum. Andererseits war es aber, wie es die Historiker Zechlin, Hillgruber und Erdmann vertreten eine Flucht nach vorn aus der Defensive heraus, halb ein missglücktes diplomatisches Manöver gegen eine bedrohliche Koalition mit bewusst eingegangenem Kriegsrisiko, halb ein "Präventivkrieg" gegen das mit einem längeren Atem ausgestattete Russland. Auch war es eine nach außen gewendete „aggressive Defensivpolitik“ von innenpolitisch in die Enge getriebenen Eliten. Bedenkt man diese wilhelminische „Polykratie der Eliten“ (Mommsen) und das vieldeutige Krisenmanagement im Juli 1914, dann entzieht sich dieser Krieg jeder eindeutigen Leseart einer situationsbezogen durchkalkulierten Politik wie es Fischer propagierte.
Wie der Autor richtig anmerkt, galt die aggressive wilhelminische Außenpolitik zweifellos als Mittel zur Stabilisierung des gefährdeten inneren Status Quo. Auf der Rückwirkung äußerer Erfolge, auf der sozialimperialistischen Ableitung innerer Antagonismen hatte die deutsche Politik jahrzehntelang zu einem wesentlichen Teil beruht und in der Julikrise des Jahres 1914 seinen Höhepunkt gefunden.
Die Reformunfähigkeit der Machteliten zu umfassenden Strukturreformen war letztendlich der traurige Schlusspunkt des Scheiterns der deutschen Großmacht- und Weltpolitik. Die deutschen Kriegsziele, so unterschiedlich und widersprüchlich sie blieben, hatten stets den Sinn, die Vorkriegsordnung symbolisch zu stärken und die Politik, die zum Krieg geführt hatte, zu rechtfertigen. Ihre Bedeutung war also nicht allein militärische, industrielle Änderung der Mächtekonstellation, sie waren Symbol einer alten Ordnung, die in der Agonie lag und Waffe einer Neuordnung Europas von der Mitte des siegreichen Erobererstaats aus. Unter diesem Blickwinkel erschien das Scheitern der deutschen Großmachtpolitik als Folge der antiquierten innenpolitischen Struktur und des wandlungsunfähigen Herrschaftssystems des Reiches. Äußerlich und innerlich erdrückt, erlag sie schließlich ihrem Leiden. Nicht einmal 48 Jahre hatte die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches von 1871 gedauert.
Fazit: Insgesamt bietet das Buch einen hervorragenden Überblick über den Ersten Weltkrieg, ist aber aufgrund neuester Erkenntnisse auch ein Muß im Bücherregal von Leute, die sich intensiver mit Geschichte beschäftigen.
Andreas Pickel
© 2004 Andreas Pickel, Harald Kloth