Im Oktober 2007 wurde Saul Friedländer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Er erhielt diesen Preis für seine monumentalen Standartwerke zum Holocaust, Die Jahre der Verfolgung (1998) und Die Jahre der Vernichtung (2006).
Friedländer, einerseits als Historiker, aber vor allem als Opfer (1932 in Prag geboren, hat Friedländer den Nationalsozialismus selbst in aller Form persönlich erfahren. Seine Eltern wurden 1942 in Auschwitz ermordet, er selbst entkam dem Tod nur in einem Versteck in einem katholischen Internat) von der Thematik persönlich betroffen, hat diesen Preis vor allem dafür erhalten, dass er im Gegensatz zu den meisten seiner Historikerkollegen dem Schicksal der Opfer einen breiten Raum einräumte und somit den Millionen von größtenteils anonym gewordenen Toten ein Gesicht und Stimme gab. Wolfgang Frühwald hob in seiner Laudatio bei der Preisverleihung hervor:
„Saul Friedländer hat sich vor Emotionalisierung gehütet. Er lässt die historischen Dokumente, den Brief, das Tagebuch, die Verordnung, das Protokoll, ungeschminkt sprechen, weil er der Faszination misstraut, den die, von den Nationalsozialisten zelebrierte, ästhetische Formierung der Todeslust auf die Zeitgenossen ausübte und ,im Widerschein? auf die Nachgeborenen noch immer ausübt.“
In dem vorliegenden Werk versucht Friedländer seinem Ansatz noch mehr Gewicht zu verleihen und durch die Einbindung anderer Historiker teils noch offene Fragen bzw. divergierende Meinungen auf dem Grund zu gehen und Konsensmöglichkeiten im Sinne einer historischen Wahrheit aufzuzeigen. Seine Absicht ist es, das Verständnis über den Holocaust in einem quasi holistischen Ansatz gesamtheitlich darzustellen. Diesem Ziel nähert er sich mit drei prinzipiellen Fragen nach der Bedeutung der Ideologie Hitlers, dem so genannte Erlösungsantisemitismus, der Frage nach der „mitwissenden“ Schuld der Deutschen und der Reaktion der Opfer. Friedländer ist ein strenger Vertreter der Intentionalisten, das heißt er sieht die Ursachen für den Holocaust in einem geradlinigen, im Wesentlichen von politisch-ideologischen Triebkräften bestimmten Weg in den organisierten Massenmord. Die Vernichtung der Juden war die Realisierung des Programms Hitlers, der durch seinen pathologisch antisemitischen Wahn von der Idee besessen war, die Juden zu eliminieren. Diese ideologisch bedingten Ursachen kann man aber nur dann in Gänze nachvollziehen, wenn man das grausame Schicksal der Opfer berücksichtigt, Antworten auf die Frage: „Wie und warum werden aus ganz normalen Menschen industrielle Vernichtungsmaschinen?“ sucht und die Ursachen für das „Wegschauen“ („Davon haben wir nichts gewusst“) hinterfragt. Nur so ist die industrielle Vernichtungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes erklärbar.
Im letzten Kapitel wird versucht dem derzeit viel diskutierten Thema der „Täterpsychogramme“ im Rahmen eines Diskussionsforums neue Impulse zu geben. Stimulator ist Harald Welzer, der in seinem viel beachteten Buch Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden (2005) die These vertrat, dass die Vernichtungspolitik nicht mit genetisch bedingten Abläufen zu erklären ist. Der Weg zum Massenmörder war also nicht vorbestimmt, sondern es wurde vielmehr aus Gründen getötet, die unter den Rahmenbedingungen der Wechselwirkung aus kulturellen und situationsbedingten Faktoren als selbstverständlich galten. Die Täter bewegten sich innerhalb eines „normativen Referenzrahmen - es wurde etwas getan, was getan werden muss“.
Friedländer ist ein Meister darin, die Geschichte nicht auf eine Ansammlung von Daten und Fakten zu beschränken, sondern dem Leser in nahezu beängstigender Weise die äußeren Umstände, den Antrieb/die Motivation der Täter aber vor allem die Gefühle der Opfer und damit die Umstände der NS-Zeit unter Berücksichtigung der internationalen Zusammenhänge in seiner Gesamtheit vor Augen zu führen. Die Darstellung der Hilflosigkeit, ja Ahnungslosigkeit der Juden hinsichtlich ihrer quasi vorbestimmten Zukunft in einem Umfeld, das sehr wohl wusste dass deren Zukunft nur im Tod münden kann, zählt zu den historischen Leitungen Friedländers.
Fazit: Das vorliegende Buch kann natürlich schon allein aufgrund seiner nur knapp 160 Seiten das Lesen der Hauptwerke Friedländers nicht ersetzen. Aber es stellt eine unverzichtbare und zweckmäßige Ergänzung und ein weiterer Schritt hin zum Verständnis des Holocaust dar. Vor allem trägt es zum besseren Verständnis des historischen Ansatzes dieses Historikers bei.
Andreas Pickel
© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth