Christopher Clark

Preußen: Aufstieg und Niedergang

1600 - 1947

Preußen ist Mythos und Schreckensbild zugleich und war nach dem Hellenischen und Römischen Reich erst die dritte Großmacht, welche am Ende völlig von der Landkarte eliminiert wurde. Doch welcher Schrecken oder welche Faszination ging konkret von Preußen aus? 60 Jahre nachdem der Alliierte Kontrollrat Preußen den Totenschein ausstellte, legt nun Christopher Clark mit dem Buch Preußen: Aufstieg und Niedergang ein stilistisches Meisterwerk über die Hohenzollerdynastie vor.

 

Das monumentale Werk beginnt mit dem Satz „Am Anfang war Brandenburg“ und endet mit „Am Ende war nur noch Brandenburg“. Dazwischen durchleuchtet der Autor auf fast 800 Seiten die preußischen Akteure und Kräfte, die das Land geformt und zerstört haben. Das Buch, im Originaltitel The Iron Kingdom, ist in insgesamt 17 Kapitel gegliedert, wobei der Schwerpunkt des Buches auf die Zeit von 1600 bis Mitte des 19. Jahrhunderts liegt. Am Anfang jedes Kapitels stellt der Autor jeweils eine These auf, die er dann nuancenreich erläutet.

 

Auch wenn das Buch bereits um 1600 einsetzt, begann die eigentliche preußische Geschichte erst am 18. Januar 1701, als sich Friedrich III. von Brandenburg zum König in Preußen krönte. In der Folge gelang es, das Hoheitsgebiet durch ausgewogene Diplomatie und dem Angliedern von Familienbesitz mittels Hochzeiten schrittweise zu vergrößern. Das friderizianisch aufgeklärte Preußen war dabei zu keiner Zeit ein zentralistischer Staat, sondern eine Förderation, deren Gebiete sich nach und nach behutsam anglichen. Erst nach den Erfolgen des Siebenjährigen Krieges etablierte sich so etwas wie eine Identifikation des Volkes mit seinem neuen Staat. Preußen galt nun quasi als Ehrenname und war als Großmacht anerkannt. Die Dreieinigkeit von wirtschaftlichem Wachstum, militärischer Stärke bei geordneten Finanzen war das Maß der Zeit.

 

In der Historie Preußens wechselten, so der Autor, ständig sprunghaft Phasen großer außenpolitischer Erfolge mit Phasen von Schwäche. Militärische Niederlagen hatten immer wieder entscheidenden Einfluss auf die Machtverhältnisse im Staat. Dies zeigte sich auch in der Bedeutung des Militärs, das im Vergleich zu den europäischen Kontrahenten an relativer Größe alles übertraf. Preußen war somit kein Land, was sich eine Armee, sondern eine Armee, die sich ein Land geschaffen habe. Der miles perpetuus, das stehende Heer, galt als Mittel, sich vom dem Einfluss anderer Mächte zu entziehen und eigenständig handeln zu können. Der preußische Adler ging damit, so der Autor keinen Sonderweg, sondern folgte nur einer alleuropäischen Tendenz. Allerdings gelang es nur Preußen, was sich viele Länder zum Ziel setzten: Eigenständigkeit durch militärische Macht. Trotz aller preußischer Ordnungsliebe ist laut Clark auffallend, dass viele Kriege teilweise als Folge einer wenig stringenten, teils chaotischen Entwicklung geführt wurden, um sich entweder präventiv zu wehren, oder das zunächst flickenteppichartige Staatengebilde abzurunden (beispielsweise in den Schlesischen Kriegen). Jede Expansion bedingte eine neue Expansion, um das geraden Gewonnene zu sichern und zu verteidigen. Preußen entstand somit nicht aufgrund eines durchdachten Planes, sondern stieg, die glücklichen Mächtekonstellationen seiner Zeit geschickt ausnutzend, mit einer überlegenen Strategie und Diplomatie zur Großmacht.

 

Neben den internen Reformen war das Militär gleichzeitig auch der Antrieb für Modernisierungsmaßnahmen in anderen Bereichen wie Politik und Wirtschaft, aber auch in Kultur und Bildung, so dass Preußen in den Bereichen Religion, Städteordnung oder Gewerbeordnung einer ständigen Reformation unterlag. Der Bezug auf das Geistige und die Schönheit der Klassik wiederbelebte erstarte Mechanismen. Der Militärstat galt als die Bildungsanstalt Europas, in der es sich radikal denken und gut leben ließ. Gerade diese Bildungsidee seiner Beamten und Offiziere war Grund für die Anziehungskraft Preußens. Aber so der Autor, der viele Mythen um Preußen relativiert, der Einfluss des Militärs war nicht so groß, wie vielfach vermutet gar eine militaristische Gesellschaft sah er zu keiner Zeit. Clark räumt somit auf mit dem Vorurteil, Preußen war ein militärisch geprägter und aggressiver Staat, der nur auf Expansion aus sei, dazu seine Untertanen im Drill erzog und sich so seinen Platz in der Geschichte erarbeitete. Preußen war somit viel besser, als man es zu damaligen Zeit empfand und heute viele sehen. Es war oftmals der ruhende Pol, das aufgeregte Europa der Zeit Stabilität zu verleihen.

 

So gesehen war Preußen ein Beispiel dafür, wie sich Autorität und Freiheit, Individualismus und Kollektivität, Staatsmacht und Volkssouveränität sowie Führung und Gefolgschaft vereinen ließen. Die Doppelbödigkeit Preußens, einerseits voller aufgeklärter Toleranz, andererseits eingezwängt im Korsett des militärischen Drills war sein bestimmendes Kennzeichen.

 

In seiner Darstellung ab 1871 ist Clark bestrebt, die preußische Geschichte nicht zu sehr zu einer Vorgeschichte des Nationalsozialismus oder den Nationalsozialismus nicht als eine Folge der preußischen Geschichte zu degradieren. Nach den nationalen Einigungskriegen und der Gründung des Deutschen Reiches, nach Clark die größte Leistung Preußens, begann der schrittweise Niedergang Preußens. Aus preußischer wurde deutsche Geschichte, die Deutschen wurden preußisch oder die Preußen eben deutsch. Die Entpreußung war für jeden sichtbar, als 1892 die Flagge schwarz-weiß-rot Nationalfahne wurde und seit 1897 alle deutschen Soldaten die dreifarbige Kokarde zu tragen hatten. Auch die preußische Armee war nun deutsch.

 

Die eben beschriebene Doppelbödigkeit Preußens gilt auch für die Zeit nach 1918, als sich einerseits die preußische Regierung als demokratisch vorbildlich erwies, andererseits preußische Funktionseliten Hitler den Weg zur Macht ebneten. Diese Ambivalenz fand seine Fortsetzung auch nach der Machtübernahme, als viele das Terrorregime unterstützten, während andere aktiv im Widerstand tätig waren. Preußen war zugleich Nährboden der Diktatur aber auch Hort der Attentäter des 20. Julis (siehe auch Helmut James von Moltke). Clark weist richtigerweise darauf hin, dass nicht ein aggressives Preußen nach Europa griff, sondern eine aggressive Partei. Wer preußische Geschichte mit dem Nationalsozialismus verbindet, liegt falsch. Die NS-Diktatur ist rein deutsche Geschichte. Als einen wichtigen Aspekt für den Widerstand gegen Hitler war für Clark die Maxime des preußischen Militarismus, die Vorrangstellung des Gewissens vor Befehlen. Mit dieser Blickrichtung gelingt dem Autor die Ehrenrettung Preußens, hat man doch bislang den preußischen Offizieren quasi die Keimzellen für Hitlers verbrecherisches Regime genannt. Nicht ganz unbekannt, aber ungewohnt. Das preußische Militär habe weder Hitler zur Macht verholfen, noch sei es im willenlos gefolgt. Vor 60 Jahren sah man die Verantwortung Preußens am europäischen Inferno noch ganz anders. Schließlich wurde Preußen aufgelöst, weil es der Aufteilung Europas in zwei Machtblöcken im Wege stand.

 

Clark gelingt der Drahtseilakt, sich nicht auf die Seite der zahlreichen Preußenverehrer oder Preußenhasser zu stellen sondern ist einer der ersten der, ohne das historische Erbe Preußen zu feiern oder zu verteufeln, aus der ausländisch-britischen Brille, somit quasi von allen Zwängen befreit, den aus seiner Sicht eher reaktiven denn aggressiven Machtstaat Preußen neutral analysiert, und das alles in einem vergnüglichen Lesestil. Licht und Schatten Preußens Geschichte werden gleichwertig analysiert und verfolgen uns im gesamten Buch. Dabei stehen die politischen Aspekte genauso im Fokus wie die Auswirkungen für die Menschen und ihre Lebensbedingungen.

 

Der Schwerpunkt des Buches liegt eindeutig auf Politik, Gesellschaft und Militär. Der Bereich der Wirtschaftsgeschichte kommt etwas zu kurz, die Wirtschaftsgeschichte des Absolutismus wird detaillierter betrachtet als die Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts oder auch die Industrialisierung, jedoch hätte bei Abhandlung aller Bereiche in der gebotenen Ausführlichkeit das Werk den lesbaren Rahmen gesprengt. Breiten Raum räumt Clark einem Thema ein, welches man eigentlich in einer Abhandlung über Preußen gar nicht vermuten mag: Religion und Frömmigkeit. Auch die Biografien der führenden Protagonisten Preußens bestechen in Darstellung, Bewertung und Folgerung.

 

Unvoreingenommen und pointenreich räumt Clark so mit dem bisherigen klischeehaften Preußenbild auf, ja man könnte fast meinen, der Autor möchte Preußen im Nachhinein von all der von Außen auferlegten Schuld befreien. So besonders macht das Buch die exzellente Verknüpfung von Strukturen, Prozessen und Ereignissen und das Ineinandergreifen von politischen, krisenhaften, diplomatischen Abläufen mit Geschehnissen / Weiterentwicklungen im Bereich der Kultur, Religion, Soziologie und der Denk- und Handlungsweise der Menschen.

 

Fazit: Das Buch überzeugt durch einerseits tiefer gehende analytische Teile und andererseits essayistischem Stil. Der Wechsel zwischen Thesen und Anekdoten, der ständige Wechsel der Perspektiven und der hervorragende methodische Aufbau bereiten trotz fast 780 Seiten ein außerordentlich kurzatmiges Lesevergnügen und einen faszinierenden Blick auf die Geschichte unserer Nation. Clarks These, dass sich in Preußen mehr getäuscht, als das es selbst enttäuschte, ist nichts mehr hinzuzufügen.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth