Im neuesten Buch von Donna Leon hat Commissario Brunetti einen offensichtlich scheinenden Selbstmord eines Schülers an der militärisch geführten Eliteschule auf San Martino aufzuklären. Dabei sticht er in ein elitäres Wespennest: Die Mechanismen der Vergabe von Staatsaufträgen treten bei den Recherchen offen zu Tage - und es zeigt sich, wie sehr jene, die gegen Korruption ankämpfen, auf verlorenen Posten stehen und sich selbst in höchste Gefahr bringen. Parallelen zu Zuständen, wie sie im Italien von heute (und überall sonst auch) zu finden sind, muss der Leser selbst ziehen - es wird ihm nicht schwer gemacht!
Es zeigt sich auch, dass Donna Leon in ihren jüngsten Brunetti-Büchern eine früher nicht so bemerkbare Dimension einbringt, in der sich der Commissario einem ethischen Konflikt stellen muss, der nicht so leicht oder manchmal auch gar nicht zu lösen ist. Einen Fall aufzuklären, ist eine Sache. Wie aber verhält man sich, wenn die Gerechtigkeit unmenschlich ist oder die Menschlichkeit ungerecht? Es ist nicht immer leicht, Polizist zu sein und Mensch zu bleiben. Das muss Commissario Brunetti in seinem zwölften Fall deutlicher denn je erfahren. Es ergibt sich zum wiederholten Male dass es immer seltener auf Gerechtigkeit hinausläuft, weder de jura noch de facto.
Entschließt sich ein Kriminalautor, einem seiner Helden nicht nur ein Buch, sondern eine ganze Buchreihe zu widmen, so sollte er die Kunst beherrschen, in jedem Band neue Aspekte einzubauen und das dem Leser vertraute handelnde Personal weiter zu entwickeln und trotzdem wiedererkennbar darzustellen. Je mehr Bücher dieser Art erscheinen, desto schmaler wird er Grat, auf dem der Autor wandeln muss. Donna Leon beherrscht diese Gratwanderung auf meisterliche Art und Weise.
Ihre ersten Brunetti-Bücher sind vor allem gute, spannende Krimis, bei denen der kriminalistische Scharfsinn im Vordergrund steht. Doch von Band zu Band wird immer deutlicher, dass das Schließen der Polizeiakten den Leser selten auch ethisch befriedigt. In diesem Bereich bleibt eine deutliche Spannung erhalten, die nur umso ungeduldiger den nächsten Band herbeisehnen lässt.
Wie in all ihren Werken kann sich Donna Leon ihre kleinen aber mittlerweile gesuchten sarkastischen Seitenhiebe auf ihre Wahlheimat Italien auch diesmal nicht verkneifen: "Das Niveau der Gesundheitsfürsorge im Veneto bleibt auf dem Stand, der den Patienten vertraut ist: etwa schlechter als in Kuba aber deutlich besser als im Tschad!"
Wer noch keinen Brunetti-Krimi gelesen hat, der bringt sich mit der Lektüre von Verschwiegene Kanäle um das Erleben dieser Entwicklung. Empfehlen würde ich einem Einsteiger mit den ersten Bänden zu beginnen. Nach den letzten beiden etwas schwächeren Brunettis, startet sie nun wieder voll durch, schließlich möchte die große Fangemeinde von Donna Leon nicht mit 08/15-Krimis abgespeist werden!
Fazit: Der intensivste Brunetti in einem herausragendem Buch!
Wolfgang Gonsch
© 2004 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth