Christopher Clark

Wilhelm II.

Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers

Es gibt nur wenige Monarchen, die auch Heute noch ein derart ambivalentes Bild in der Geschichtsschreibung hinterlassen wie der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II.. Die einen loben den Kaiser als Erneuerer und denjenigen, der das Deutsche Reich endgültig in das illustre Feld der Großmächte überführte. Die andere, weit überwiegende Autorenschar bezeichnet ihn als einen völlig planlos sowie unkoordiniert agierenden arroganten und großkotzigen Monarchen und sieht in ihm den ersten Totengräber von über 200 Jahren preußischer Geschichte. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in der Darstellung seiner Rolle für all die historischen Zusammenhänge seiner Zeit dar, die nicht nur Außenpolitik zum Thema haben. Während die einen dem Kaiser diesbezüglich nur eine Statistenrolle zukommen lassen, sehen ihn andere als die Schlüsselperson im innenpolitischen und gesellschaftlichen Geflecht seiner Zeit. Wenn sich nun dieses divergierende Meinungsbild zu keinem Konsens bringen lässt, sollte man ähnlich wie im Falle des zweideutigen Bildes über Preußen einen ausländischen Kenner der deutschen Geschichte das Wort übergeben - und wer bietet sich da besser an als Christopher Clark, der auch schon in seinem letzten Bestseller unsere Perspektive über die preußische Militärdynastie korrigierte.

 

Motivation für eine Biografie über den letzen deutschen Kaiser war für Clark das oftmalige eindimensionale Meinungsbild. Durch eine andere Herangehensweise an die Person Wilhelm II. wollte er diesen zwar nicht rehabilitieren, aber zumindest sein Verhalten ins rechte Licht rücken. Durch eine Andersinterpretation bekannter Sachverhalte soll der Kaiser entdämonisiert werden. Die bisherige Charakterisierung schien ihm doch zu überzogen - die Person und das Verhalten, welche das Amt mit sich brachte, gilt es besser zu differenzieren. Auch war es sein Bestreben zu untersuchen, ob es zu den bekannten Katastrophen des 20. Jahrhunderts gekommen wäre, wenn ein anderer Monarch die Fäden des Landes gezogen hätte.

 

Im Januar 1859 geboren, wurde schon früh der Großvater des kleinen Wilhelm, Kaiser Wilhelm I., sein Orientierungspunkt, eine Konstellation, die laut Clark bald zu rivalisierenden Verhaltensmustern zwischen Sohn und Vater führte. Auch in Reichskanzler Bismarck fand er zunächst einen Verbündeten und Unterstützer, wenngleich diese Beziehung immer wieder schweren Schwankungen ausgesetzt war. Der spätere Generalstabschef Alfred Graf von Waldersee dagegen wurde ihm ein Freund und Komplize, genau das charakterliche Gegenstück zu seinem Vater darstellend und auch immer wieder die Beziehung des kleinen Wilhelm zum Reichskanzler intrigierend. Allerdings so Clark stand er nicht unter einer Willensbeeinflussung Waldersees oder anderer Freunde, sondern nutzte seinerseits geschickt Personen und Situationen wechselseitig zu seinen Gunsten. Clark kritisiert die Schnellverurteilung Wilhelms als einen bereits seit seiner Kindheit psychisch kranken und instabilen Menschen nur um damit die „Sündenbocktheorie“, also den Kaiser als Alleinschuldigen am Ersten Weltkrieg anzuprangern, zu untermauern. Zu Recht betrachtet er Diagnosen wie fehlende Elternliebe oder Sauerstoffmangel bei der Geburt als ungeeignet für eine Erklärung des wilhelminischen Verhaltens, auch weil im Verlauf der Geschichtsschreibung die Diagnosen über den Kaiser ständig wechselten. Natürlich kann man jedes überlieferte abstruse Verhalten Wilhelms so interpretieren, dass man die Theorie seiner Schwachsinnigkeit belegen kann - aber dann wurde und wird die Geschichte und Gegenwart von vielen Schwachsinnigen gesteuert.

 

Im Rahmen einer kurzen Einordnung des Herrschaftssystems Wilhelm II. in den verfassungsrechtlichen Rahmen des Deutschen Reiches sieht Clark den Kaiser als einen unter vielen Fürsten. Die föderalistische Ausrichtung mit dem Bundesrat als eigentliches Machtzentrum schränkte die Macht des Kaisers ein. Aber auch wenn sein Titel somit „Deutscher Kaiser“ und nicht „Kaiser von Deutschland“ lautete, war er aufgrund seiner Sonderstellung zumindest der primus inter paris. Die wahren Machtverhältnisse widersprachen jedoch der Theorie, das Primat Preußens und damit die dominierende Stellung Bismarcks bestimmte zunächst die Richtung. Dieser verstand es wie keiner seiner Nachfolger, einen sensiblen Umgang mit dem Kaiser, diplomatisches Geschick und Können, die Fähigkeit alle und Alles für seine Sache zu instrumentalisieren mit seinem Charisma zu einer stringenten Politik zu verbinden. Nach der Ära Bismarck unterlag aber die „unvollendete“ Verfassung einer Art ständigen Transformation mit der Konsequenz, dass die Machtverhältnisse ständig hin und her wogten.

 

1888 im Alter von 29 Jahren bestieg der junge Kaiser den Thron. Bereits am Beginn seiner Regierungszeit untergrub der Kaiser nachhaltig die Autorität des Reichkanzlers und dessen Koordinierungshoheit, indem er direkt mit einfachen Beamten korrespondierte und die Exekutivverfahren unterminierte. Im Streit um die Arbeiterfrage kam es schließlich zum Bruch mit Bismarck und dessen Abdankung im März 1890. Nun im Ruhestand wurde Bismarck zum größten Kritiker der Regierung und des Herrschers und brachte Wilhelm in einen schweren inneren Konflikt. Einerseits hätte er den in der Bevölkerung hoch angesehenen Ex-Kanzler zur Räson bringen müssen, um seine eigene Autorität nicht zu untergraben, andererseits wollte er sein Amt so wie Bismarck im Zenit seiner Macht ausführen - allerdings vergeblich. Obwohl von einem immensen inneren Drang zur Machtausübung und -Durchsetzung ausgestattet, gelang es Wilhelm nicht, auf den ersten Blick zunächst unabhängige Ereignisse und Sachverhalte grundlegend zu analysieren und auszuwerten, Verbindungen herzustellen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Vor allem aber fehlte es ihm an der Fähigkeit, seine Folgerungen kohärent um- und durchzusetzen. Symbolträchtige Maßnahmen und Aktionen sollten ihm einen Eintrag in die Geschichtsbücher sichern, dazu fühlte er sich durch seine quasi per Amt auferlegten übersinnlichen Fähigkeiten berufen. Jedoch aufgrund seiner ständigen Kehrtwendungen war so laut Clark sein Bestreben, Spannungen abzubauen, die politische Mitte zu stärken und darauf seine Macht aufzubauen, nur schwerlich als konsistentes politisches Ziel auszumachen.

 

Ein exzellentes Beispiel der Art der Machtausübung und des ambivalenten Blickes auf den Kaiser zeigte sich im Zuge der Bildungsreform. Wilhelm sah sich wie selbstverständlich als den Taktgeber einer eigens durch ihn initiierten Bildungskonferenz und rechnete mit großem Beifall für seine Ideen. Stattdessen sorgten seine Ausführungen unter anderem zur Stärkung des deutschnationalen Anteils zuungunsten von altgriechischen und lateinischen Anteilen sowie sein Faible für Leibesertüchtigung für großen Unmut unter den eigentlich im Zentrum der Konferenz stehenden Fachleute. Diese fühlten sich durch das arrogante Auftreten des Kaisers schlichtweg übergangen. Obwohl er nach zähen Verhandlungen vielerlei Abstriche in seinen Reformbemühungen hinnehmen musste, zeigte ihm aber die überschwängliche Begeisterung in der Bevölkerung, dass er die Gefühle der Menschen an der richtigen Stelle getroffen hatte.

 

Sein Zickzackkurs, seine Art, sich wie eine Flipperkugel durch unterschiedliches Anstupsen in verschiedene Richtungen zu bewegen, zeigte sich auch im Rahmen eines neuen Schulgesetzes, mit dem die katholische Kirche ihre Einflussmöglichkeiten auf den Unterricht stärken wollte. Wie ein Fähnchen im Wind drehte der Kaiser zwischen den verschiedenen Meinungsmachern. Nur mit Mühe konnte er eine Abdankung seines neuen Reichkanzlers Caprivi verhindern, der aber aus Empörung über die erneute Einmischung des Kaisers in die Regierungsgeschäfte zumindest seinen Posten als preußischer Ministerpräsident an von Eulenburg übergab. An diesen beiden Beispielen zeigt sich, wie wichtig es gewesen wäre, wenn der Kaiser überparteilich über den Dingen gestanden wäre, aber wie hätte er dann die ihm aus seiner Sicht übertragene Macht auch durchsetzen sollen? Im Rahmen der Diskussion über die Sozialistengesetze zeigte sich nun die schädliche Trennung des Amtes des Reichkanzlers von dem des preußischen Ministerpräsidenten als die kompromisslose Haltung Eulenburgs mit dem kompromissbereiten Verhalten Caprivis nicht zu vereinen war. Schließlich akzeptierte Wilhelm beider Rücktrittsgesuche. Die Ämter wurden wieder vereint und dem bereits 75 Jahre alten Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingfürst übertragen. Wilhelm schätzte zunächst dessen altersbedingt ausgeglichene und besonnene Art. Da dieser aber aus seiner Sicht zu wenig „linientreu“ agierte, stützte sich der Kaiser nun in seinen Entscheidungen zunehmend auf befreundete Berater ab. Als sich Wilhelm 1896 im Zuge der „Köller-Krise“ gegen einen Aufstand der Minister durchsetzte, nutzte er die neue Machtfülle für eine umfassende Neuzuordnung von Zuständigkeiten und von zahlreichen Personalwechseln im Ministerium. Dies führte unter anderem zu der für die spätere Flottenrüstung ausschlaggebenden Besetzung des Postens eines Staatssekretärs im Reichsmarineamt mit von Tirpitz.

 

Doch die nun augenscheinlich neue Dominanz des Monarchen war nur vordergründig, musste er auch weiterhin jegliche Gesetzesinitiativen mit den dafür zuständigen Ministern aushandeln. Wilhelm wurden oftmals seine eigenen (intellektuellen) Grenzen aufgezeigt, die ihm obliegende Machtfülle sinnvoll und zweckmäßig einzusetzen. Hinderlich so Clark, war hierfür insbesondere seine mangelnde Kooperationsfähigkeit, heute würde man sagen, ihm fehlte jegliche „Teamfähigkeit“. Auch wenn er nun in der Exekutive teilweise seine Macht erweitern konnte, hatte er nun die Macht der Parlamente des Reiches und der Länder als größten Gegenspieler, deren uneinigen Stimmen er nicht harmonisieren konnte. Dies gelang erst unter dem neuen Reichskanzler Bernhard von Bülow. Das Verhältnis zwischen dem Kaiser und seinem neuen Reichkanzler galt gemeinhin als gut, mit der eigentliche Machtfülle auf Seiten des Politikers. Er stand nun im Zentrum der Regierungsgeschäfte, die durch Wilhelm ernannten Minister fungierten lediglich als eine Art „Marionettenkabinett“. Aufgrund der konsequenten Kontrolle von Bülows schwanden Wilhelms Möglichkeiten in seinem Sinne Einfluss auf die preußischen Beamten zu nehmen. Da es aber von Bülow geschickt verstand, den Kaiser in diplomatischen Angelegenheiten als den wahren Drahtzieher publikumswirksam darzustellen, blieb die Beziehung zunächst konfliktfrei. Erst als der Kaiser zunehmend misstrauisch wurde und das Spiel, welches von Bülow in der Presse und in der Bevölkerung mit ihm trieb durchschaute, durfte sich nach neun Jahren ein neuer Reichkanzler versuchen - Theobald von Bethmann Hollweg.

 

Obwohl noch von von Bülow ausgewählt, damit erweckte der „Neue“ per se Misstrauen beim Monarchen, entwickelte sich früh ein gutes Arbeitsklima, wenngleich auch von Bethmann dem Kaiser keine zusätzliche Machtfülle zugestand. Im Gegenteil, Bethmann wusste sich erfolgreich gegen die Einflüsse des Kaisers zu wehren. Vergleichbare Kraftakte wie bei früheren Reichskanzlern blieben aber aus, da sich der Kaiser nun zunehmend aus innenpolitischen Angelegenheiten zurückzog. Aber auch außenpolitisch blieb sein Verhalten wenig stringent. So stellte er sich zum Beispiel in diversen Streitigkeiten zwischen Militär und zivilen Behörden öffentlich auf Seiten des Militärs, „off the records“ gab er aber der anderen Seite Recht. Das zu dieser Zeit so wichtig gewesene Primat der Politik war aber so Clark wegen der weiter aufrechterhaltenen Sonderstellung des Militärs nicht opportun. Die außerparlamentarische Armee fühlte sich nur dem Kaiser verpflichtet und nutzte dies auch nachhaltig aus. Aber auch die außenpolitischen Ziele waren nur schwer zu durchschauen. Sein hoher persönlicher Ehrgeiz in Verbindung mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln hätten für eine einflussreichere Rolle ausgereicht, doch erneut fehlender Realitätssinn, mangelndes Geschick und auch das Fehlen notwendigen Fortüne waren die Ursache für einen ständigen Kurswechsel. Der „manipulierte Kaiser“ wurde weitestgehend gelenkt durch einen engen Kreis an Freunden und Bekannten, eine Abstimmung mit den eigentlich dafür zuständigen Ministern war die Ausnahme. In der Konsequenz wurde Wilhelm an wichtigen Entscheidungen nicht beteiligt war. Einzig und allein die Flottenpolitik - und damit auch deren fatalen Folgen - konnte er sich auf die Fahne schreiben. Aber auch dort musste er Abstriche in seinen Vorstellungen hinnehmen. Während Wilhelm eine bewegliche Marine gestützt auf Kreuzern präferierte, setzte sein neuer Staatsekretär im Marineamt, Admiral von Tirpitz auf den Bau von Schlachtschiffe. Wilhelm erneut mehr Getriebener als Treibender knickte ein, wohl wissend, dass damit ein konfrontativen Kurs mit England vorgezeichnet war.

 

Auch im weit gespannten diplomatischen Netz umwob ihn eine gewisse Sorglosigkeit z.B. gegenüber den bilateralen Bündnissen zwischen Frankreich mit Russland bzw. mit England. Ebenso in der 1. und 2. Marokkokrise zog mehr der Außensekretär Kiderlen-Wächter die Fäden als der Kaiser selbst. Dieser verstand es durch die Instrumentalisierung der Medien und der Bevölkerung für seine harte Linie die Handlungsfreiheit des Kaisers einzuengen und provozierte den mittlerweile in der Presse genannten Guillaume le timide, le valeureux poltron (Wilhelm der Zahme, der tapfere Feigling) seinerseits zu einer unnachgiebigeren Haltung. Das Deutsche Reich trieb zunehmend in die Isolation, ohne das es der Kaiser verhindern konnte und mochte. Fehlende Stringenz, das trügerische Gefühl, Handlungsoptionen zu haben, die de facto keine waren sowie seine Naivität waren auch hier Konstanten seines (fehlenden) Einflusses. Das von einigen Historikern als immens schädigend beurteilte teils schroffe Auftreten des Kaisers auf dem außenpolitischen Parkett sowie dessen durchgehend kritischen Beziehungen zu anderen Monarchen wird durch Clark als nur wenig bedeutsam eingestuft und hatte seiner Meinung nach nur wenig Einfluss auf die Kursbestimmung der deutschen Politik. Da man sich innenpolitisch nicht auf eine Richtung einigen konnte, um dann auch gegenüber andern Ländern mit einer Stimme zu sprechen, war die deutsche Außenpolitik weiter sehr konfus und jeglichen Bündnissen mehr als hinderlich. Neben dieser Uneinigkeit hemmte die o.a. Flottenpolitik eigene Bündnismöglichkeiten und förderte stattdessen die Bündnisbereitschaft Englands mit Frankreich und Russland. Clark unterstreicht hierzu ganz klar, dass das Flottenprogramm auch ohne Wilhelm zustande gekommen wäre. Bündnisoptionen hätten sich nur durch einen grundlegenden Verzicht auf Macht ergeben. Dazu war aber die jüngste Großmacht nicht bereit.

 

Für Clark war Wilhelm II. der erste Medienkanzler der Geschichte. Kein Herrscher hatte je so oft zu seinem Volk und zu sonstigen Anlässen und Veranstaltungen von Verbänden und Gruppierungen gesprochen. Erstmalig wurden dabei auch Film- und Fotoaufnahmen genutzt, um den Kaiser richtig zu positionieren. Meister in der Inszenierung, zeigte sich aber auch hier seine wenig stringente Herangehensweise an die Herausforderungen seiner Zeit und er erreichte das Gegenteil von dem, was er mit seiner Vielzahl an öffentlichen Auftritten erreichen wollte - sich als omnipräsenter Herrscher und Herr des Verfahrens darzustellen. Bezeichnend hierfür die Aussage seiner Mutter: ?Ich könnte ihm bei aller Gelegenheit, bei denen er öffentlich sprechen will, ein Schloss vor dem Mund hängen?. Anstatt als Monarch über allen Meinungsströmungen zu stehen, ergriff er oftmals wechselnd Partei für die eine oder die andere Seite mit der Folge, dass seine Reden so ausgelegt wurden, wie es gerade passte. Sein Ansehen litt mehr unter dem was er öffentlich sagte, als dass was er tat oder anwies zu tun. Vor allem nach seiner bekannten „Hunnenrede“, aber noch viel mehr nach der „Daily Telegraph-Affäre“ versuchte seine Entourage Ort, Zeit und Form seiner Auftritte zu bestimmen, scheiterte aber an der Sturheit des Kaisers, Konfrontationen mit negativer Kritik boten seinem Redeschwall nur für kurze Dauer Einhalt. So trat der Monarch weiter von einem Fettnäpfchen ins andere und blieb die Hauptperson für Satiriker und Karikaturisten.

 

Wie sah Clark nun die Verantwortung des Kaisers am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Clark verurteilt all die Historiker, die nun in der Retrospektive, also so zu sagen mit der „wisdom of hindsight“, alle Aktionen des Kaisers so auslegen, wie es notwendig scheint, um ihm die alleinige Schuld zu zuschreiben. Clark plädiert stattdessen dafür, ein abschließendes Urteil über das Handeln des Monarchen besser in den begrenzenden äußeren und inneren Umständen einzubetten. Clark betont hierbei die stark passive Rolle des Kaisers. Sowohl in den beiden Balkankrisen von 1908 und 1912 und der Julikrise 1914 sieht er keine Anzeichen, dass Wilhelm sein Reich bedingungslos in den Krieg schicken wollte. Der „casus foederis“, also der oft gegen ihn verwandte ?„Blankoscheck“ mit Österreich sollte nur für den Fall eines Angriffes auf Österreich gelten. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sieht der Autor auch den Kriegsrat vom 8. Dezember 1912 nicht als das entscheide Forum für die Ausarbeitung konkreter Kriegspläne, sondern lediglich als eine Episode von vielen. Nur wenig bekannt ist, dass Wilhelm II. sogar für den Friedensnobelpreis 1913 im Gespräch war. Trotz der oft kriegshetzerisch klingenden Reden legt Clark genügend Beweise für die friedlichen Absichten Wilhelms dar, eine Lösung der Julikrise mit diplomatischen Mittel suchend. Erst als Österreich entgegen der Prognose Wilhelms Serbien doch den Krieg erklärte und eine englische Neutralität auszuschließen war, ließ Wilhelm seine Armee mit den Worten an seinen Generalstabschef Moltke "Nun können Sie machen was Sie wollen" von der Leine. Aber auch nur deshalb, weil ihn weiter die Illusion eines begrenzten Krieges am Balkan umwob. Die eigentlichen Steuermänner, der Kanzler und der Generalstabschef hatten aber längst weiter reichende Pläne.

 

Während des Krieges blieb Wilhelm II. aus dem Machtzentrum verdrängt, ohne dass es ihm so richtig bewusst war. Anspruch und Wirklichkeit des Herrschers klafften weiter weit auseinander. Wilhelm förderte den Neid und Streitigkeiten zwischen den Teilstreitkräften, mangels einer streitkräftegemeinsamen Führung bezeichnet Clark das Reich treffend als "strategisch führerlos". Einzig durch das Recht der Ernennung des Generalstabschef hatte Wilhelm noch Einfluss, doch mit Übernahme dieses Amtes durch den Helden von Tannenburg, Hindenburg, im Sommer 1916 wurde der Kaiser weiter marginalisiert, seine Aufgabe reduzierte sich auf eine Art Mittlerfunktion zwischen der zivilen und militärischen Führung. Seine fatalste Entscheidung war schließlich nach erneut langem hin und her die Billigung des uneingeschränkten U-Bootkrieges im Januar 1917. Die heutigen Konstellationen genauestens kennend, war nach Clark dieser für den Ausgang des Krieges fatale Schritt eigentlich absolut unnötig, da aber diese Art der Kriegsführung eine breite Unterstützung fand und erste Friedensverhandlungen scheiterten, sah Wilhelm sich zu diesem Schritte gezwungen. Die Kriegserklärung der USA im April 1917 war die Folge, der Krieg war nun endgültig nicht mehr zu gewinnen. Währendessen baute die militärische Führung seine Macht weiter aus und erzwang am 13. Juli 1917 sogar den Rücktritt des Reichskanzlers. Es folgte für kurze Zeit Georg Michaelis, später Graf Georg von Hertling und schließlich kurz vor der Kapitulation Prinz Max von Baden. Die „Neuen“ waren dem Kaiser gänzlich unbekannt, eine Rückgewinnung von Macht und Einfluss so unmöglich - das Gespann Hindenburg-Ludendorff bestimmte die Politik. Viel schlimmer für das Ego des Kaisers war auch seine zunehmende Verdrängung aus der öffentlichen Wahrnehmung zugunsten des „Ersatzkaisers“ Hindenburg. Als Forderungen nach einer Abdankung Wilhelms erdrückend wurden flüchtete er am 29. Oktober 1918 nach Spa und schließlich am 9./10. November ins holländische Exil, womit er den letzten Rest von Ansehen verlor. Clark geht sogar so weit zu behaupten, dass ohne diese Flucht die Monarchie zu retten gewesen wäre. Nach Übernahme der Macht der Nationalsozialisten hegte er kurzzeitig Hoffnung an ein Wideraufleben der Monarchie unter dem Führer Adolf Hitler. Doch als ihm dieser eine öffentliche Feier anlässlich seines 75. Geburtstages verweigerte starb auch dieser letzte Glaube an Rehabilitation. Trotzdem unterstützte er bis zu seinem Tode am 4. Juni 1941 die grausame Politik der NS-Regimes.

 

Im Gegensatz zu Röhl, der fast zeitgleich den dritten Band seiner über 4.400 Seiten (alleine der letzte Band, der den Zeitraum 1900 bis 1941 abdeckt umfasst über 1.600 Seiten) dicken monumentalen Biografie publizierte, gelingt es Clark in seiner typisch britischen Art Wilhelm II. auf knapp 350 Seiten auf den Punkt gebracht zu charakterisieren, ohne dabei wesentliche Aspekt auszuklammern.

 

Clark verzichtet darauf, sich auf die Seite der zahlreichen Kaiserverehrer oder der Monarchiehasser zu stellen, sondern ist einer der ersten, der ohne das historische Erbe Wilhelms zu feiern oder zu verteufeln, den aus seiner Sicht eher reaktiven denn aggressiven Herrscher neutral und unvoreingenommen analysiert. Licht und Schatten seiner Biografie werden gleichwertig analysiert und verfolgen uns im gesamten Buch. Dies alles in einem vergnüglichen Lesestil. Obwohl über den Kaiser bereits mehr Biografien als über seine Vorgänger im Amte oder aber auch über Bismarck, Churchill und Lenin geschrieben wurden - nur Hitler hat ihn dahingehend übertroffen - gelingt es Clark, bereits bekannte Aspekte in ein neues Licht zu stellen und vor allem plausibel zu erklären.

 

Pointenreich räumt Clark mit dem bisherigen klischeehaften Wilhelmbild auf. Durch eine exzellente Verknüpfung von Strukturen, Prozessen und Ereignissen wird deutlich, inwieweit der Kaiser ständig im Zwiespalt stand zwischen Treibender sein zu müssen aber noch stärker Getriebener zu sein von Leuten, die seine Person und noch mehr seine Funktion für ihre Zwecke instrumentalisierten. Clark entlarvt die Doppelbödigkeit des Kaisers, einerseits voller aufgeklärter Toleranz, andererseits eingezwängt im Korsett der Verfassung. Er entschlüsselt so das bis dato relativ unkritisch manifestierte Kaiser-Bild. Wilhelm war weder eine charismatische Führungsperson und schon gar nicht überirdisch, aber auch kein Dämon. Was ihm wirklich fehlte war der richtige Instinkt für die jeweilige Situation sowie eine berechenbare Politik.

 

Besonders während des Krieges war Wilhelm zwar von aktuellen Informationen distanziert und umgeben von einer Heerschar von Beratern, er stand aber weiter im Brennpunkt des Systems. Wilhelm war der entscheidende Koordinator zwischen den zivilen und militärischen Entscheidungsträgern, doch konnte er diese Aufgabe wie so oft nicht nachhaltig genug wahrnehmen. Anstatt eine Machteilung zu fördern unterstützte er eine Machtkonzentration, anstelle wie heute praktiziert das Militär dem Primat der Politik unterzuordnen, unterstützte er so schweigend eine Militärdiktatur. Aber so Clark, auch ohne Wilhelm II. wäre das Deutsche Reich wie alle anderen europäischen Mächte in den ersten Weltkrieg geschlittert und auch ohne ihn wäre der Krieg verloren gegangen. Wilhelm II. hat den Krieg nicht vorsätzlich gewollt, die Macht ihn zu verhindern oder im Krieg die Fäden zu ziehen fehlte ihm alle Mal.

 

Wilhelm II. war ein technik- und weltoffener Monarch, der das Deutsche Reich in die Moderne führte. Das aber damit seine außenpolitische Tollpatschigkeit und Naivität sowie die letztendlich verderbliche Beeinflussbarkeit durch sein politisches Umfeld kompensiert werden können, soweit reicht die Absolution Clarks berechtigterweise aber auch nicht. Durch ständige Kehrtwendungen konnte die Exekutive nicht zu einer Art monolithischem Block geformt werden, die seiner Politik folgen konnte. Stattdessen führte seine Führungsschwäche zu einer Dispersion der Machtzentren und zu vielen eigentlich unscheinbaren Eigenwegen, die jedoch in der Summe zu einem fatalen Ergebnis führten. Das Verhalten des letzten deutschen Kaisers verlieh der Suche nach einem starken Führer neuen Auftrieb, das Fundament für die Diktatur Hitlers war gelegt.

 

Fazit: Ein Buch das zugleich aufklärt und überzeugt. Der hervorragende methodische Aufbau und der essayistische Stil, der Wechsel zwischen Thesen und Anekdoten, sowie der ständige Wechsel der Perspektiven bereiten ein außerordentlich kurzatmiges Lesevergnügen und einen neuen Blick auf diese schillernde und zugleich schrille Persönlichkeit.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2008 Andreas Pickel, Harald Kloth