Jess Jochimsen: Bellboy oder: Ich schulde Paul einen Sommer

Roman

München ; Deutscher Taschenbuch Verlag ; 2012 ; 236 Seiten ; ISBN 978-3-423-21402-5

 

Die Freundin ist im auf und davon gelaufen, das Studium hat er geschmissen und bei dieser hochsommerlichen Hitze kriegt man sowieso nichts auf die Reihe. Mit der grotesken, ländlich-niederbayerischen Vergangenheit hat er gebrochen, die beinah unerträgliche Gegenwart erträgt man nur mit einer ganz großen Portion Zynismus, Zigaretten und jede Menge Alkohol und die Zukunft: welche Zukunft? Vor diesem tristen Hintergrund fristet Lukas ein trostloses Dasein als sonntäglicher Bediener der Glockenläutanlage einer kleinen, evangelischen Kirchengemeinde in München (hier erschließt sich auch der Titel des Buches: bell-boy), als Nachhilfelehrer völlig unmotivierter Nervensägen sowie Beglücker der meist sexhungrigen, allein erziehenden Mütter seiner Nachhilfeschüler.

 

In dieses, zwischen Promiskuität, Zynismus und Dauer-Ekzem verlaufenden tristen Leben platzt Lukas´ demenzkranker Cousin Paul, der damit nicht nur Lukas´ Leben auf den Kopf stellt. Freiwillig gezwungen, wühlt Lukas in Pauls und somit auch seiner eigenen Vergangenheit und beginnt die Geheimnisse nach und nach zu lüften, die ihr Leben seit der gemeinsamen Provinz-Kindheit umgeben. So ganz nebenbei wird wegen ein paar halbnackter Engländerinnen ein Ausflugsschiff versenkt, ein halbes Provinznest geschwängert und werden mindestens 12 der Zehn Gebote gebrochen.

 

In diesem flotten, nur vordergründig witzigen Lese-Kabarett geht es nicht nur um Studienabbrecher, Blender, frustrierte, unbefriedigte Frauen, schwule Geistliche, pseudo-glückliche Lebensgemeinschaften aller Art und viele andere gescheiterte Existenzen. Nein, dieses Kuriositäten-Kabinett ist mehr, viel mehr! Dieses Buch hält unserer morbiden Gesellschaft gnadenlos den schonungslos demaskierenden Spiegel vor Augen. So ziemlich jedes Klischee der letzten 30 Jahre wird bedient und an allen passenden und vor allem nicht-passenden Stellen eingebaut.

 

Jess Jochimsens Texte sind keineswegs eine Aneinanderreihung von plumpen Witzen oder bloßstellenden Passagen. Dieser in die Tiefe gehende Roman voller Ironie und Absurditäten besticht durch trockenen, hintergründigen und teils auch schwarzen Humor. Der schwer zu findende aber sich immer deutlicher herausbildende roten Faden führt uns auf die große Suche nach dem WIE und WARUM. Nach und nach kann sich der Leser in vielen Sequenzen dieses sentimentalen Plots selbst wiederfinden. Trotz der stellenweise fast schon dramatischen Überzeichnung des Ganzen ist dieser Roman ein traurig stimmendes Plädoyer für das Leben.

 

Fazit: Kabarett wie es sein soll – ehrlich, überzeichnend, mit Tiefgang und doch nicht ganz ernst gemeint!

 

Wolfgang Gonsch

5 Sterne
5 von 5

© 2012 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth