Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog
München ; Dt. Verl.-Anst. ; 2013 ; 895 Seiten ; ISBN 978-3-421-04359-7
Als am 4. August 1914 deutsche Truppen die Neutralität Belgiens verletzten, um gegen den französischen Erzfeind erneut die Klingen zu wetzen, waren überall in Deutschland ein unvergleichlicher
Nationalstolz und ein Gefühl der Befreiung zu spüren. Es kam zu klassen- und parteiübergreifenden Solidaritätsbekundungen suggerierte doch die Regierung den Angriff als eine notwendige
Präventivmassnahme gegen die russisch – französische Einkreisungspolitik. Doch was genau geschah in den knapp 6 Wochen zwischen dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand
am 28. Juni in Sarajewo und dem 4. August? Wäre durch eine mehr durchdachte Diplomatie und Strategie das Unvermeidliche doch vermeidbar gewesen? War das Deutsche Reich wirklich der Angreifer und
damit Alleinschuldige?
Nächste Jahr jährt sich der Beginn der „Urkatastrohe des 20. Jahrhunderts“ zum hundertsten Mal und es ist vorherzusehen, dass unzählige Publikationen den Ersten Weltkrieg auf dem neuesten
Forschungsstand in allen Facetten beleuchten werden. Bereits jetzt hat der renommierte Historiker Christopher Clark, der bereits mit einer Biografie über Wilhelm II., aber noch mehr mit seinem Buch über Preußen historische Meilensteine legte, mit einem brillanten Buch DAS Standartwerk über die Julikrise 1914 publiziert.
Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers war für die Donaumonarchie endlich der Anlass, die gegen sie gerichteten großserbischen Bestrebungen militärisch niederzuschlagen. Am 5. Juli
überreichte der Kabinettschef im österreichisch-ungarischen Außenministerium, Graf Alexander Hoyos, ein Beistandsersuchen seines Kaisers Franz Joseph an den deutschen Kaiser Wilhelm II. für eine
Militäraktion gegen Serbien. Die Antwort Wilhelm II. war schließlich der berühmte „Blankoscheck“, als er dem österreichischen Botschafter in Berlin, Graf Szögyény-Marich, Bündnistreue und damit
die uneingeschränkte Unterstützung des Deutschen Reiches für einen Waffengang gegen die Balkanrepublik zusagte.
Als „Guillaume le timide“, wie der Kaiser genannt wurde, am 27. Juli von einer dreiwöchige Nordlandreise zurückkehrte, war er sichtlich überrascht über die Antwort Serbiens, die fast alle
Forderungen eines österreichischen – ungarischen Ultimatums vom 23. Juli erfüllte. Ein moralischer Sieg für Österreich, so der Kaiser, ein Krieg schien wieder vermeidbar und er beabsichtigte nun,
Österreich vor dem Waffengang zu bewahren. Jedoch unterschätzte er das in seiner Abwesenheit gestrickte Netz von Arrangements und er gestand Österreich auch zu, eine sogenannte „äußere
Satisfaction d´honneur“ durchzuführen, d.h. kleine und begrenzte militärische Aktionen. Er glaubte, dass damit Österreich einerseits nach Außen das Gesicht wahren konnte und andererseits dem
bereits „heißgelaufenen“ österreichischen Militär Möglichkeiten zum Abkühlen gab. Doch Österreich war schon zu sehr auf Krieg eingestellt, um sich noch umstimmen zu lassen.
Am 28. Juli um 11:00 Uhr vormittags erklärte Österreich Serbien den Krieg, tags darauf um 05:00 Uhr morgens wurde die Zitadelle von Belgrad beschossen. Russland antwortete am 30. Juli mit der
Generalmobilmachung. Dies, so Clark, war die unsägliche Entscheidung, welche die nun überwiegend militärisch dominierten Räder der Großmächte nicht mehr stoppen konnte. Der Versuch des
wilhelminischen Deutschlands, Russland von einem Eingreifen in den österreichisch-serbischen Krieg abzuhalten, war gescheitert. Nun bekamen auch die deutschen Militärs freie Hand und am 1. August
unterzeichnete der Kaiser die Mobilmachungsorder. Eine letzte Seifenblase auf Frieden zerplatzte, als sich die vage Hoffnung auf englische Neutralität endgültig in Luft auflöste. Die
Öffentlichkeit in dem Glauben lassend, hinterrücks überfallen worden zu sein, folgte begeistert ihrem Monarchen. Das Unglück nahm seinen Lauf.
Die Frage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit dem Alleinschuldigen Deutschland gehört zu dem umstrittensten Thema, das die wissenschaftliche Forschung und das bis heute nicht restlos
geklärt ist. Nachdem zunächst im Artikel 231 des Versailler Vertrages den Mittelmächten und vor allem Deutschland die alleinige moralische und juristische Kriegsschuld zugeschrieben wurde, in
Deutschland selbst jedoch das Gefühl obsiegte, in Notwehr vor der heranrollenden russischen „Dampfwalze“ gehandelt zu haben, vertraten dann lange Zeit alle namhaften Historikern die Aussage des
englischen Kriegspremiers Lloyed Georges: „Wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert“. Erst der Hamburger Historiker Fritz Fischer wagte es Anfang der 60er Jahre mit seinem Buch „Griff nach
der Weltmacht“ an dieser These zu rütteln und das historische Establishment zu erschüttern.
Auch wenn die Thesen Fischers teilweise widerlegt wurde, war der Erste Weltkrieg jedoch in der Tat in mancher Hinsicht ein „Griff nach der Weltmacht“ und ein „Krieg der Illusionen“, ein mit
expansiven und annexionistischen Kriegszielen von vielen geforderter Kampf um die Etablierung Deutschlands im Konzert der Großmächte, der Schaffung eines Imperium Germanicum. Andererseits war es
aber, wie es die Historiker Zechlin, Hillgruber und Erdmann vertreten eine Flucht nach vorn aus der Defensive heraus, halb ein missglücktes diplomatisches Manöver gegen eine bedrohliche Koalition
mit bewusst eingegangenem Kriegsrisiko, halb ein „Präventivkrieg“ gegen das mit einem längeren Atem ausgestattete Russland. Bedenkt man dazu die wilhelminische „Polykratie der Eliten“ (Mommsen)
und das vieldeutige Krisenmanagement im Juli 1914, dann entzieht sich dieser Krieg jeder eindeutigen Leseart einer situationsbezogen durchkalkulierten Politik wie es Fischer propagierte.
Unbestritten ist dagegen, dass das Scheitern der deutschen Großmachtpolitik in der antiquierten innenpolitischen Struktur und des wandlungsunfähigen Herrschaftssystems des Reiches lag. Äußerlich
und innerlich erdrückt, erlag sie schließlich ihrem Leiden. Nicht einmal 48 Jahre hatte die Geschichte des Deutschen Kaiserreiches von 1871 gedauert.
Clark geht es weniger um die Frage, warum der Krieg ausbrach, sondern, wie es dazu kam, d.h. um die unterschiedlichsten Wechselbeziehungen, die in bestimmten Ergebnissen mündeten. Er konzentriert
sich dabei nicht ausschließlich auf die Verantwortung der deutschen Politik und Diplomatie, sondern liefert eine allumfassende Abhandlung über Entscheidungsprozesse in den wichtigsten
europäischen Staaten, verknüpft diese mit den Denkprozessen sowie Handlungszwängen und damit den Motiven seiner wesentlichen Protagonisten und verbindet so die innerstaatlichen mit den
zwischenstaatlichen Entscheidungen. Schritt für Schritt wird das aus seiner Sicht „komplexeste Ereignis der Moderne“ für alle verständlich und nachvollziehbar entschlüsselt.
Gut gelingt es dem Autor, die einzelnen Charaktere treffend zu beschreiben und liefert zu jedem der Protagonisten so was wie eine eigene Biografie gleich mit. Dies, weil man laut Clark die
Ereignisse nur dann einordnen kann, wenn man deren Blickwinkel und Motivation auf den Gang der Dinge versteht. Trotz der nicht unerheblichen Anzahl an Protagonisten verliert man jedoch bei Clark
nie den Überblick. Im Gegensatz zur Aufsehen erregenden Darstellung von Fritz Fischer, war es das Deutsche Reich betreffend weniger der „Griff nach der Weltmacht“, der Deutschland in den
„Vaterländischen Krieg“ trieb, sondern eher (grob) fahrlässiges Verhalten, indem die „Ursache-Wirkungs-Relationen“ der Großmächte sowie die Situation auf dem Balkan fatal falsch eingeschätzt
wurden. So gingen der Kaiser sowie seine militärischen und politischen Akteure nicht deshalb in den Urlaub, um Europa zu täuschen, wie es Fritz Fischer vertritt, sondern, so Clark, weil ihnen die
gesamte Tragweite der Katstrohe, auf die das Deutsche Reich zusteuerte nicht, bewusst war. Genau wie in den anderen Staaten auch, rechnete man maximal mit einem lokal begrenzten kriegerischen
Schlagabtausch von kurzer Dauer. Man erkannte auch nicht nur in Ansätzen die bevorstehenden Grausamkeiten, die man in Gang setzte. So gesehen waren alle „Schlafwandler“. Clark gelingt der
Drahtseilakt, sich einerseits nicht auf die Seite der zahlreichen Verfechter der „Deutschland-ist-der-Alleinschuldige“ oder „Absolution-für-Deutschland“ zu stellen, sondern den aus seiner Sicht
eher reaktiven als aggressiven Machtstaat „Deutsches Reich“ neutral und unvoreingenommen zu analysieren. Die berechtigten Weltmachtsambitionen des Deutschen Reichs wurden sicherlich in mancherlei
Dingen äußerst undiplomatisch betrieben, aber, so Clark, wesentlich entscheidender war die Missgunst Frankreichs, Englands und auch Russlands für den Fortgang der Geschichte. Allerdings, die
unleugbare Ermutigung gegenüber Österreich-Ungarn, militärisch gegen den Nachbarn Serbien Krieg zu führen, entbindet das Deutsche Reich nicht von seiner Schuld. Clark will niemanden anklagen und
schon gar keinen Schuldspruch fällen, er spricht vielmehr von einem „defensiven Patriotismus in vielen Staaten, d.h. einerseits der Bevölkerung klar machend, dass man sich um Frieden bemühte,
aber andererseits auch, dass man sich gegen jegliche provokante Aggression von außen wehren müsse.
So besonders macht das Buch die exzellente Verknüpfung von Strukturen, Prozessen und Ereignissen, das Ineinandergreifen von politischen, krisenhaften, diplomatischen Abläufen mit Geschehnissen /
Weiterentwicklungen im Bereich der Kultur, Religion, Soziologie, Mentalitäten, Ideengeschichte und der Denk- und Handlungsweise der Menschen. Clark stellt uns nicht nur das Gesamtkonstrukt
anschaulich dar, sondern vor allem die Mechanismen und seine Wirkungsweisen, die zur Katastrophe führten. Der Blick auf das, was damals passierte wird so nachhaltig verändert. Der hervorragende
methodische Aufbau und der essayistische Stil, der Wechsel zwischen Thesen und Anekdoten, sowie der ständige Wechsel der Perspektiven bereiten zudem ein außerordentlich kurzatmiges Lesevergnügen
und einen neuen Blick auf die neben der „Kuba-Krise“ wohl spannendsten Wochen der Weltgeschichte.
Ein Buch was aufklärt, was zeigt, wie lokale Krisen Großmächte in Konflikte von weltpolitischer Bedeutung treiben und stürzen können. Eine These Clarks, die angesichts Bosnien-Herzegowina, Kosovo
oder auch Syrien aktueller denn je erscheint. Wie bereits in seinen Meisterwerken über Wilhelm II. und Preußen stützt Clark all seine Thesen auf ein nie dagewesenes Archivstudium, nicht nur
begrenzt auf den englischen, deutschen und französischen Sprachraum, sondern auch in Russland oder Serbien – das ganze stets mit einem ausgewogenen Abwägen der Authentizität der Dokumente. Das
Buch bereit so trotz fast 700 Seiten ein außerordentliches kurzatmiges Lesevergnügen, stimuliert zum Mitdenken und dazu, sich eine eigene Meinung zu bilden. Clark bietet einen vielleicht nicht
komplett neuen, aber auf alle Fälle anderen Blick auf die europäische Geschichte und damit auch auf die Geschichte unserer Nation. Stringent weist er fundiert nach, warum sich alle Staaten
plötzlich umzingelt fühlen mussten und den Befreiungsschlag suchten. Frankreich provozierte und war laut Clark einer der Hauptkriegstreiber, England betrieb eine antideutsche Politik und Russland
schuf mit seiner Mobilmachung unverrückbare Fakten. So gesehen war das wilhelminische Deutschland stets im reaktiven Modus.
Fazit: Wenn man dieses Buch aufmerksam gelesen hat, wird deutlich, dass sich über Schuld- und Unschuldszuweisungen am Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehr getäuscht haben, als sie
vielleicht selbst zugeben würden. Laut Clark gibt es nicht den einen Bösen, eine „Smoking Gun“ und die Guten, sondern wenn schon, waren alle Bösewichte. Der Erste Weltkrieg war ein Krieg, den
niemand wollte, aber auch niemand verhinderte. Das Deutsche Kaiserreich war bei weitem nicht unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, aber es war nicht mehr schuldig als seine Mit- und
Gegenspieler in Moskau, Paris, London oder auch Wien.
Andreas Pickel
© 2013 Andreas Pickel, Harald Kloth