Michael Schulte-Markwort: Burnout-Kids

Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert

München ; Pattloch ; 2015 ; 269 Seiten ; ISBN 978-3-629-13065-5

 

Wenn man heutzutage Bücher oder Fernsehsendungen zu medizinischen Themen liest oder verfolgt, so gibt es meist nur zwei Brennpunkte: Was die Kinder angeht ist es ADS (=Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder -störung) oder ADHS (Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Was die Erwachsenen betrifft, ist es Burnout, verursacht durch den in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen Stress und Druck im Alltags- und Berufsleben. Unzählige Psychologen und Therapeuten tummeln sich um diese Bereiche und versuchen durch Publikationen sowie Therapieangeboten einen finanziellen Reibach mit den teils stark verunsicherten Betroffenen zu machen.

Nun hat der renommierte Kinderpsychologe Michael Schulte-Markwort, Ärztlicher Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und im Altonaer Kinderkrankenhaus, ein alarmierendes Buch über ein bis dato weniger bekanntes Thema herausgegeben: Burnout bei Kindern, selbst bei Kleinkindern!

Ja, sie haben richtig gelesen, die Erschöpfungsdepression hat mittlerweile selbst unsere Kleinsten erreicht. Schulte-Markwort beginnt sein Buch mit Beispielen, erschreckenden Beispielen, die es uns gleich kalt den Rücken herunterlaufen oder ins Kinderzimmer eilen lassen, verbunden mit der Frage an unsere Kinder, ob alles in Ordnung sei, ob sie sich gut und vor allem nicht überfordert fühlen. Aber Schulte-Markwort will nicht effektheischend Panik in unsere Wohnstuben bringen, nein, er möchte für ein bisher wenig bekanntes Thema sensibilisieren und verdeutlichen, dass es alle treffen kann. Dabei gibt er offen zu, dass man erst am Anfang der Untersuchungen steht, aber man jetzt beginnen muss, Eltern, Lehrer, die Politik und Gesellschaft aufmerksam zu machen, man Präventivmaßnahmen entwickeln und anwenden sollte, um „Burnout Kids“ in größerem Ausmaße zu verhindern.

Wie seine Beispiele zeigen, ist es eigentlich egal, aus welchem Umfeld die Kinder kommen: Ob jung oder alt, arm oder reich, dick oder dünn, sportlich oder computerspielesüchtig, lernbehindert oder überintelligent, unter gewissen Rahmenbedingungen können alle Kinder von der Erschöpfungsdepression betroffen werden, zeigen eine Mischung aus Verstimmung, Schlafschwierigkeiten, Appetitlosigkeit Konzentrationsmängeln, Apathie oder weinen auch schnell. Überall dort, wo die Anstrengungen größer sind als der Erfolg, kommt es zu Burnout. Gerade auch in gut situierten Familien ist die Krankheit öfters anzutreffen, als man glaubt und vor allem die betroffenen Eltern glauben. In diesen Familien steht oftmals nur die Arbeit und die gesellschaftliche Stellung im Mittelpunkt, das Handy für geschäftliche Gespräche, auch abends und am Wochenende zuhause, man ist nur mit sich selbst und seinem Leben beschäftigt, für die Kinder ist eigentlich kein Platz. Die müssen einfach so funktionieren in der Schule, im Alltag. Dazu dann frühkindlicher Musikunterricht sowie eine trendige Modesportart wie Tennis. Zum Spielen, zum Kindsein bleibt meist keine oder nur wenig Zeit. Schnell sind die Kinder in dem vom Autor so treffend beschriebenen Teufelskreis aus langanhaltender Überforderung gefolgt von einer dauerhaften Erschöpfung bis hin zur Erschöpfungsdepression (für Schulte-Markwort ein Synonym für Burnout) oder gar einer Depression. Anstelle ein unbeschwertes, glückliches Kind zu sein, sind die Kinder traurig, niedergeschlagen, ja ängstlich, ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück. Spätestens hier sollten bei den Eltern die Alarmglocken läuten, man Hilfe bei einem Spezialisten suchen und die Sache nicht mit „Elternstandardsätzen“ wie „jetzt stell Dich nicht so an“ oder „jetzt reiß Dich mal zusammen“ abtun. Auch Kinder haben ein endliches Kraftreservoir.

Das Thema ist von Schulte-Markwort mit prägnanten Beispielen untermauert fachlich hervorragend aufbereitet und geschrieben, überfordert aber den in medizinischen Fachbegriffen nicht so versierten Leser keineswegs. Nach den eingehenden Beispielen erklärt der Autor in logischen Schritten, wie er zu seiner Diagnose gelangt und widmet sich dann im Folgenden ausführlich den Ursachen. Neben der schweren Erblast der Vorgängergenerationen (den sogenannten „historischen Ursachen“) ist es vor allem die Familie und das unmittelbare Umfeld, die eine Erschöpfungsdepression begünstigen. Eine wesentliche Ursache sieht Schulte-Markwort dabei insbesondere in der „Ein-Kind-Familie“. Auf nur einem Kind vereinigen sich nicht nur die oftmals erdrückende Liebe der Eltern, sondern vor allem auch Rundumüberwachung („Helikoptereltern“) oder auch sonst alle familiären Probleme und Ängste sowie der Druck, es allem und jeden Recht zu machen. Dazu kommen der Drang nach Perfektionismus und Leistungsstreben im Übermaß.

 

Die zunehmende Digitalisierung und Informationsflut tun ein Übriges. Verstärkt wird dies alles in und durch die Schule. Schulte-Markwort lässt kein gutes Haar an der arrogant wirkenden Lehrerschaft. Man sollte sich eigentlich einmal als „Backseater“ in eine Klasse setzen, um zu verstehen, was hier teilweise auf den Rücken unserer Kinder veranstaltet wird. Eltern werden bewusst zu Hilfslehrern als Entlastung der Schule, schulische Erziehung hat Zuhause zu erfolgen. Seit Jahren wird versäumt, den wachsenden und sich ändernden Bedürfnissen der Kinder in angepassten Lehrmethoden gerecht zu werden. Oftmals überforderte und an den Gefühlen der Kinder uninteressierte Lehrer sind dafür verantwortlich, dass die Kinder zunächst die Grundschule so durchlaufen dass sie auch die Eignung für das Gymnasium erhalten, dort dann das „Turboabi“ mit einem Schnitt unter 1.5 absolvieren, um dann in einem gut bezahlten Beruf promovieren zu können … und die Eltern stolz zu machen. So zumindest der Wille und der Plan der Eltern, bei dem die Kinder nicht gefragt werden. Aber nicht nur wir Eltern setzen die Kinder unter Druck, sondern unsere gesellschaftlichen Leistungsnormen, ein Leben, was nur durch Ökonomie und Gewinnmaximierung geprägt ist. Wer nichts leistet, ist auf der Verliererstraße. Das lerne die Kinder von klein auf. Ganz Darwin folgend zählt nur das Leistungsprinzip, die Kinder sind von Beginn an lediglich Produkte und Teil des ökonomischen Systems, sind aber diesen Anforderungen meist nicht gewachsen, wirken hilf- und hoffnungslos.

 

Schulte-Markwort beschreibt das treffend wie folgt: „Der Weg, auf den wir unsere Kinder schicken, ist eben keine gut ausgebaute Schnellstraße, sondern eine mit Schlaglöchern übersäte alte Autobahn, …“. Wir Eltern sollten selbstkritisch genug sein und zugeben, dass wir selbst auch oft genug daran scheitern, die notwendige Bindung zu den Kindern aufzubauen, Beständigkeit und Ruhe auszustrahlen, ihnen die notwendige Orientierung zu geben. Kinder sehen sich gerne als Paket, das laufend verschickt wird, aber nicht weiß, wohin es geht. Dabei sollte man sich wieder mehr zurückbesinnen zu Gefühlen, Gefühle zeigen und annehmen.

Erst wenn man sich seiner Diagnose sicher ist, man sich auch der Ursache sowie der ungefähren Schwere und den Begleiterscheinungen des Burnouts bewusst ist, kann man Behandlungsmethoden entwickeln und mit der Therapie beginnen. Auch wenn dies viele erschrecken mag und manche per se ablehnen, für Schulte-Markwort ist die medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva/Psychopharmaka auch bei Kindern die einzige Möglichkeit zu helfen, schnell zu helfen, dafür zu sorgen, dass diese wieder zur Ruhe kommen, ausreichend Schlaf haben und damit auch Kraft für eine wirksame Psychotherapie. Diese dann verbunden mit Physiotherapie und Entspannungsverfahren. Dabei werden dann nach und nach die Stressoren behandelt, parallel oder sukzessiv. Die jungen Patienten sollen „stressresistenter“ gemacht werden, ein Sache, die nicht von Heute auf Morgen zu lösen ist, sondern Monate in Anspruch nimmt. Und eine entsprechende Therapie ist nicht nur Sache des betroffenen Kindes, nein, hierzu ist die gesamte Familie mit einzubinden. Das Problem ist jedoch schon, überhaupt einen Therapieplatz in einer auch auf Kinderpsychologie spezialisierten Klinik oder vergleichbaren Einrichtung zu erhalten. Monatelange Wartlisten sind ein nicht tragbarer Zustand unseres Gesundheitssystems. Schließlich geht es um unsere Kinder, der Zukunft unserer Gesellschaft.

Besonders empfehlenswert macht das Buch das letzte Kapitel, indem Schulte-Markwort Hinweise gibt, wie man als Familie Burnout bei seinen Kindern verhindern kann. Am Wichtigsten ist dabei für den Autor, dass das, was man den Kindern vorlebt und als Werte mitgibt, authentisch ist, sei es als Eltern, Verwandter, nahestehender Freund oder auch Lehrer. Das, was man verlangt, muss man auch aus innerster Überzeugung vorleben. Die vermittelten Werte und Verhalten müssen in Einklang sein. Lieber auch eingestehen, dass man nicht perfekt ist, als scheinheilig eine Scheinwelt vorzuspielen. Die Blase wird irgendwann platzen und dann sind die Kinder oft ein Leben lang unverzeihlich.

 

Wichtig ist der gegenseitige vertrauensvolle Austausch, der Autor bezeichnet dies als „Begegnung“, um Probleme zu lindern und zu lösen bevor sie zu groß sind oder die Kinder in sich hineinfressen. Wir müssen die Sorgen, Nöte, aber auch Wünsche unserer Kinder ernst nehmen, sich gegenseitig respektieren und die Kinder fürsorglich durch die Klippen der Kindheit manövrieren. Dies erfordert aber auch, dass man den Kindern ehrlich gegenüber auftritt, eine Diskussion auf Augenhöhe mit offenem Visier stattfindet. Gemeinsam kann man dann die Anstrengungen des Kindes reduzieren und die Aktivitäten, die zum Burnout führten hierarchisieren oder priorisieren. Dies allein hilft meistens schon, um den schmalen Grat zwischen Fördern und Überfordern zu meistern. Kindern muss das Gefühl gegeben werden, dass sie auch ohne erfolgreich zu sein etwas Wert sind und glücklich sein können. Neben dem Lernen von Enthaltsamkeit für materielle Dinge, zählt dazu auch (immaterieller) Verzicht, Verzicht der Eltern auf Dinge, welche die Zeit für die Kinder reduzieren und Verzicht auf die Dinge, welche die Kinder überfordern. Verlässlichkeit in der Beziehung untereinander und Familien mit gelebter Gemeinsamkeit sind die beste Prophylaxe gegen Erschöpfungsdepression. So lautet die einfach klingende, aber in der Umsetzung meist sehr komplizierte und komplexe Botschaft von Schulte-Markwort.

 

Sicherlich, jedes Kind ist anders geartet, die Auslöser und Symptome sind unterschiedlich, jeder liebt sein Kind so, dass er nur das Beste für es will. Aber man kann von den Befunden, Ursachen und vor allem den beschriebenen Behandlungsmethoden viel lernen. Die Balance zwischen fördern, fordern und fürsorglich unterstützen ist der Schlüssel zu stressresistenten Kindern, die ihren Weg machen. Die Symptome erkennen und wichtig auch vorwurfsfrei anerkennen, seine eigene Rolle und die der Familie in Beziehung zu dem Kind analysieren, die Analyse des weiteren Umfelds und dritter Personen und schließlich dem Kind Lebensfreude zurückgeben ist die primäre Rolle fürsorglicher Eltern.

Betroffene Eltern sollten das Buch lesen, bevor sie sich selbst auf den Diagnosemarathon begeben. Es ist ein Buch zum Mitfühlen, welches von Anfang fesselt. Es offenbart eine ständige Reflexion des eigenen Lebens, gibt einen tiefen Blick in unsere Gesellschaft, seien es gestresste Lehrer, die Handy- und Internetgesellschaft oder Scharlatane in der Therapie, aber auch in die Orientierungslosigkeit der Eltern in Bezug auf ihre heranwachsenden Kindern, die dadurch nach und nach ein negatives Selbstbildnis entwickeln. Bei Kindern entsteht der Eindruck, sie müssen einfach gegenüber jedem und allem funktionieren. Die gestresste und überforderte Gesellschaft schafft gestresste und überforderte Kinder. Das gilt es zu verhindern, einerseits aus dem unmittelbaren Umfeld, aber auch gesamtgesellschaftlich.

 

Fazit: Ein Buch, was aber nicht nur Eltern mit potentiellen „Burnout Kids“ Hilfestellung gibt, sondern vor allem auch Lehrkräften und Therapeuten zu empfehlen ist.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2015 Andreas Pickel, Harald Kloth