München ; Droemer ; 2015 ; 384 Seiten ; ISBN3-426-27656-9
Die neuen digitalen Medien stellen unser gesamtes Leben auf den Kopf: Kaum noch nutzen Jugendliche ein Handy auch zum Telefonieren, kaum jemand mehr führt persönliche Gespräche, um Termine oder
Informationen auszutauschen oder auch einfach nur nett zu „schnacken. Es werden keine SMS oder Mails mehr geschrieben, von Briefen gar nicht zu reden. Heute wird getwittert, über WhatsApp
kommuniziert, sich in der Cloud oder im Cyberspace bewegt. Die Nutzung von sozialen Netzwerken wie Instagram, WhatsApp oder Facebook beherrscht unseren Alltag. Wer nicht abgeschnitten sein
möchte, der muss mitmachen, 100 und mehr tägliche Blicke auf und Aktionen mit dem Smartphone sind keine Seltenheit, ein Teenager bekommt im Schnitt sieben Nachrichten pro Stunde. Dies erfordert
aber, dass man ständig, also rund um die Uhr „online“ ist, sei es über das Smartphone, Notebook oder über den Computer bzw. Laptop. Selbst im Bett und im Schlaf sind diese Medien die ständigen
Begleiter. Der in dem Buch von te Wildt zitierte Medienwissenschaftler McLuhan ging bereits vor über 45 Jahren (!) so weit zu behaupten, dass nicht wir Menschen uns mittels der digitalen Medien
unterhalten, sondern die digitalen Medien sich uns, den Menschen, zu eigen machen, um sich untereinander auszutauschen. Seine Horrorvision ist aktueller denn je.
Zu diesem zunehmend alle tangierenden, aber meist verdrängten Thema hat nun der renommierte Psychologe Bert te Wildt, Leiter der Medienambulanz an der Klinik für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie am LWL Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum ein Buch mit dem alarmierenden Titel „Digital Junkies“ publiziert. Wie der Titel schon suggeriert, geht es analog zu
Drogenabhängigkeit um die negativen Folgen exzessiver Internetnutzung, um die Folgen für das betroffene Individuum, aber auch für unsere Gesellschaft insgesamt.
Es gibt heutzutage eigentlich niemanden mehr, der in irgendeiner Art und Weise nicht mit digitalen Medien konfrontiert ist. Allerdings, so viele Erleichterungen die neuen Medien auch bieten, wie
eigentlich bei allem, zu intensive Nutzung ist gesundheitsgefährdet und kann zu Abhängigkeit führen. Mittlerweile ziehen wir nicht nur Informationen „aus dem Netz“, sondern füttern es auch über
die sozialen Netzwerke mit dem eigenen „Ich“, unser Seelenleben verlagert sich mehr und mehr in die fiktive Welt des Internets. Den Ursachen dafür sowie deren Gefahren hat sich nun te Wildt auf
die Spur gemacht.
Te Wildt stellt zunächst einmal dar, wann der Bogen überspannt ist, also wann man über die normale und alltägliche Nutzung hinaus von Sucht und Abhängigkeit spricht und behandelt die Arten von
Medienabhängigkeit. Nach Darstellung von Behandlungsmethoden setzt er sich dann in dem meines Erachtens interessantesten Kapiteln damit auseinander, wie man Internetabhängigkeit eigentlich
präventiv verhindern kann. Prävention ist immer noch die einfachste Methode, Abhängigkeiten zu verhindern, das gilt nicht nur für diese Form der Sucht. Eine Behandlung kann sehr langwierig,
kostspielig sein oder in einigen Fällen auch erfolglos. Im letzten Kapitel verteufelt te Wildt dann die vermeintlichen Heilsversprechen der Internetnetzgemeinde.
Wie die Beispiele zeigen, ist es eigentlich egal, aus welchem Umfeld die Abhängigen kommen: Ob jung oder alt, arm oder reich, dick oder dünn und sportlich, lernbehindert oder überintelligent,
unter gewissen Rahmenbedingungen können wir alle zu Internetabhängigen werden. Eins ist jedoch sicher: Je früher Kinder mit den digitalen Medien in Kontakt treten, desto größer ist die Gefahr der
Abhängigkeit. Gerade wir Eltern sind dabei unseren Kindern ein schlechtes Vorbild. Anstelle selbst unsere freie Zeit für den persönlichen Kontakt, Spielen, das persönliche Gespräch mit unseren
Kindern zu nutzen, sitzen wir stattdessen selbst Stunden vor dem Computer oder/und dem Fernseher, legen das Handy nicht aus der Hand, wollen ständig erreichbar sein. Wir verschenken im Netz
unseres Seelenleben, anstelle unseren Kindern gemeinsame Zeit zu schenken. Kindern fehlt so in ihrer Entwicklung was sie brauchen, Beständigkeit und Ruhe, die notwendige Orientierung, aber auch
Erlebnisse. Kinder brauchen mehr soziale Bindung, wollen vielleicht auch lieber was unternehmen, aber wenn die Eltern „on“ sind, vertiefen sie sich selbst mehr und mehr in den digitalen Medien.
Die Kinder und Jugendlichen entziehen sich so nach und nach unserem Erziehungsstil, den Erwartungen der Erwachsenenwelt und suchen im Netz nach Befriedigung emotionaler oder auch sexueller
Defizite. Nicht selten sitzen die Abhängigen dann 16 Stunden vor der „Kiste“, verlieren vollständig die Kontrolle was um sich herum, aber vor allem auch mit sich selbst passiert. Ist dann doch
mal kein Medium greifbar, könnte man meinen, Seele und Körper kommen zur Ruhe. Stattdessen, so te Wildt, beunruhigt diese Ruhe die Menschen (sic!), sie werden gereizt und nervös, haben
Entzugserscheinungen. Im extremsten Fall kann dieser Entzug zu einem derartigen seelischen Notstand führen, dass die Betroffenen in Lebensgefahr geraten. Deshalb sollten sich Abhängige
stets in professionelle Hände begeben und jede Art von Entzug nur unter permanenter Überwachung durchführen. Die Süchtigen vernachlässigen sich, in der Seele und am Körper, brechen sämtliche
soziale Kontakte ab, igeln sich in ihrer digitalen Welt ein, erleben einen erheblichen Leistungsabfall, sei es in der Schule oder auch im Job. Man flüchtet sich in eine Scheinwelt aus digitalen
Kontakten, meint vermeintlich, die fehlenden realen Kontakte kompensieren zu können, was aber de facto nicht funktioniert. Im Gegenteil, man verliert so auch noch die letzten Freunde, flüchtet
sich noch mehr in seine digitale Welt, man gerät in die Spirale oder gar den Teufelskreis der Sucht.
Warum begeben sich Menschen in diese Abhängigkeit? Man erhofft sich, dass bestimmte Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ziele erreicht werden, die scheinbar in der realen Welt unerreichbar oder
unerfüllt bleiben: Der Cybersexsüchtige erlebt bevorzugte Sexpraktiken, Erfolge bei Internetspielen ersetzen Erfolge in der Schuler, berufliche Vorstellungen lassen sich im Netz leichter
realisieren. Die Identifikation mit einem virtuellen Helden stärkt vermeintlich das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl, langfristig führt jedoch der Kampf um virtuelles Geld und Macht nur
zu Frustration und Vereinsamung. Die gefühlte Interaktivität ist, so te Wildt, eigentlich eine Pseudoaktivität oder gar Interpassivität.
Die Gefahr einer Abhängigkeit besteht dann, wenn soziale Netzwerke hauptsächlich oder ausschließlich dazu dienen, Stress und negative Stimmungen abzubauen und Einsamkeit zu überwinden. Te Wildt
bezeichnet die Nutzung sozialer Netzwerke vollkommen berechtigt als faulen Kompromiss zwischen der Sehnsucht nach dem Anderen und der Angst vor echter zwischenmenschlicher Nähe. Wer Angst hat,
auf andere zu zugehen, wer Angst hat vor Enttäuschungen flüchtet sich eher in die Anonymität des Netzes. Viele glauben, über das Netz alles unter Kontrolle zu haben, dabei werden sie selbst
kontrolliert, überwacht und analysiert. Wir glauben freier zu sein und sind stattdessen abhängiger. Wie schreibt te Wildt so treffend: Das Netz sieht alles. Früher war es der liebe Gott!
Die Unvereinbarkeit von Internetabhängigkeit und erfülltem Berufs- und Privatleben, die Vernachlässigung des eigenen Körpers und der Seele sowie das Absinken des eigenen Leistungsniveaus sind
Erscheinungen der Abhängigkeit. An diesen drei Bereichen muss, so der Autor, dann auch die Therapie ansetzen. Dabei ist, wie auch bei den anderen Suchtarten die Selbsterkenntnis des Patienten
mitentscheidend für den Therapieverlauf sowie die Heilungschancen. Nur wer der Therapie positiv gegenüber steht und sie auch wirklich will, dem kann auch langfristig geholfen werden. Im Gegensatz
zu Drogen geht es aber nicht darum, den Abhängigen das „Suchtmittel“, die digitalen Medien komplett vorzuenthalten, ihn komplett abstinent zu machen. Das ist in der heutigen Zeit weder zweckmäßig
noch sinnvoll. Aber es geht um eine bewusste Nutzung, eine Beschränkung auf das Notwendigste. Trotzdem beginnt die Behandlung mit einer kompletten Abstinenz und es werden Alternativen zu dem
Suchtmittel aufgezeigt. Nach dem erfolgreichen Entzug folgen sukzessive ein zunächst fremdkontrollierter und schließlich selbstkontrollierter Zu- und Umgang mit den Medien. Unterstützend wird
auch gelernt, soziale und menschliche Kontakte wieder aufzubauen, wie z.B. in einem Sportverein. Auch alle Maßnahmen sich seines Körpers, seines Geistes wieder bewusst zu werden, Sport zu
treiben, handwerkliche Tätigkeiten auszuführen, ein Buch zu lesen oder kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, sollten die Therapie begleiten. Viele müssen das von Grund auf neu lernen oder
Jugendliche überhaupt erst lernen. Meist, so te Wildt, fehlt in der Therapie meist nur ein kleiner Mosaikstein, um einen Menschen von seiner Abhängigkeit zu befreien. Deshalb ist es auch wichtig,
den ganzheitlichen Ansatz zu wählen, auch die gesamten Nebenumstände und das Umfeld der Patienten mit einzubeziehen. Der vormalige Abhängige soll die Freude am (realen) Leben zurück gewinnen. Man
muss den Leuten klar machen, dass sie auch dann Leben, am Leben teilnehmen, wenn sie „offline“ sind.
Wichtig bei der Therapie ist, darauf peinlichst zu achten, dass gerade labile Patienten nicht alternativ ein anderes Suchtverhalten zeigen, vermehrt Alkohol zu sich nehmen, zum Kettenraucher
werden, sich an Spielautomaten verlustigen. Deshalb kann gerade in der Anfangsphase auch die Begleitung mit Medikamenten hilfreich sein.
Am besten wäre, es erst gar nicht zu einer Internetabhängigkeit kommen zu lassen, also der behutsame und kontrollierte Umgang mit den digitalen Medien. Wie te Wildt richtig beschreibt, ist die
eigentliche Gefahr nicht der viele Konsum, sondern vielmehr, was gerade Kinder durch das lange Sitzen vor dem Computer eben alles verpassen. Das „nicht erleben“ von alltäglichen Dingen hemmt den
normalen Entwicklungsprozess von Kindern. Prävention für ihn ist auch ein kontrollierter Umgang dahin gehend, dass das Kind, der Jugendliche, der Erwachsene, als der Nutzer, das Medium beherrscht
und nicht das Medium den Bediener. Hier ist auch die Politik gefordert, die der Internetnutzung durch Kinder und Jugendliche Schranken auferlegen muss. Diese brauchen wirkungsvolle Barrieren
gegen Porno- und Horrorvideos oder gegen Spiele mit Endloscharakter, die per se schon Abhängigkeit bedeuten. Sonst, so der Autor, kommt es zur Medienverwahrlosung, die immer mehr unsere
Gesellschaft erfasst.
„Der unkritische Umgang mit den elektronischen Medien hat erschreckende Ausmaße angenommen. Wenn sich die Erwachsenenwelt nicht bald etwas einfallen lässt, um der Internetabhängigkeit
entgegenzutreten, setzt sie die Zukunft der heranwachsenden Generationen im wahrsten Sinne des Wortes aufs Spiel“. So die einleitenden Worte des 5. Kapitels und die eigentliche alarmierende
Botschaft von te Wildt. Er will die Gesellschaft aufrütteln, aber gerade uns, die Eltern und Erziehungsberechtigen (was wir ja immer gerne vergessen) in die Pflicht nehmen. Te Wild verteufelt
nicht die neuen Medien, er fordert keine Abstinenz, das ist absolut abwegig, er fordert eine verantwortungsbewusste Steuerung und das ist schwierig genug. Das Buch offenbart eine ständige
Reflexion des eigenen Lebens, gibt einen tiefen Blick in unsere Gesellschaft, seien es die Wichtigmacherei der Handy- und Internetgesellschaft, aber auch in die Orientierungslosigkeit der Eltern
in Bezug auf ihre heranwachsenden Kindern, die dadurch nach und nach ein negatives Selbstbildnis entwickeln. „Wenn Sie Ihren Kindern was Gutes tun wollen, dann lesen Sie Ihnen viel vor oder
lassen sie lesen“. Dem ist nicht zu widersprechen.
Fazit: Te Wildt will Internetabhängigkeit besser bekannt machen, transparent machen und Empfehlungen zur Behandlung, noch besser zur Prävention machen. Das gelingt ihm exzellent. Ein
Buch, was aber nicht nur Eltern mit potentiellen Internetabhängigen Hilfestellung gibt, sondern vor allem auch den Politikern zu empfehlen ist. Das Netz ist nicht der Heilsbringer für all unsere
Probleme und löst die Konflikte dieser Welt, im Gegenteil. Freiheit und Demokratie werden und können nicht durch eine neue Technologie errungen und erhalten werden, sondern von Menschen. Dies
zeigen nachhaltig der Arabische Frühling oder die Occupy-Bewegung. Nach der Zivilisation haben wir es nun mit der Medialisation zu tun. Te Wildt fordert einen medialen Klimaschutz, eine virtuelle
Umwelt, die uns guttut und nicht in eine kollektive Internetanhängigkeit führt. „get connected“ und „share“ suggeriert Leben und Kontakte, stattdessen erwirkt es Abschottung und Vereinsamung. Dem
Entgegenzuwirken erfordert gemeinsame Anstrengungen!
Andreas Pickel