Das Leben des Englebert Munyambonwa
Berlin ; Verlag Klaus Wagenbach ; 2016 ; 108 Seiten; ISBN 978-3-8031-2751-8
Innerhalb von nur 100 Tagen im Zeitraum Anfang April bis Juli 1994 massakrierten in Ruanda in blindem Volkshass Angehörige der Hutu-Volksgruppe über 800.000 Tutsis auf grausamste Weise. In
unzähligen „dicken Wälzern“, Berichten und Reportagen wurde der größte Genozid seit dem Zweiten Weltkrieg nacherzählt, aber selten ist es einem Autor so eindrucksvoll gelungen, die Leiden, das
Schrecken, Emotionen, traumatische Belastungen so fröstelnd rüberzubringen wie in dem gerade einmal nur 90 Seiten dicken Buch von Jean Hatzfeld „Plötzlich umgab uns Stille“.
Hatzfeld geht es in seiner Erzählung nicht um die Verbindung von Handlungssträngen und Prozessen, um politische Ereignisse, nein, einzig ein Opfer beispielgebend für alle Opfer dieses
Völkermordes kommt zu Wort. Ungeschminkt schildert Hatzfeld die grausame Hutu Vernichtungsmaschinerie, eigentlich spontan und desorganisiert, aber in seiner Wirkung doch irgendwie organisierend
wirkend.
Hatzfeld lässt in seinem Buch einzig Englebert Munyambonwa (Jahrgang 1958), was so viel heißt wie „Der, der den Blick auf sich zieht“, zu Wort kommen, einen sehr gebildeten und akademisch
geprägten Angehörigen der Tutsis. Wie seine Brüder war er stets Klassenbester, konnte aber auch am elterlichen Hof kräftig mit anpacken. Die ganze Familie war stolz auf ihren Vater, der es durch
unermüdliche Arbeit weit gebracht hatte und seinen Kindern die beste Schulbildung bieten konnte.
Englebert hätte es sowohl in einem Wirtschaftsunternehmen, als auch als Staatsbediensteter bis in die obersten Führungsebenen bringen können, wäre er nicht mit dem einen Makel behaftet gewesen,
der Makel, ein Tutsi zu sein. Bereits 1959, 1963 und 1973 deutete sich der Genozid von 1994 an. Auch hier verfolgten bereits Hutu Tutsi mit Macheten und Messern und es kam zu mörderischen Akten.
Allerdings blieben die Grausamkeiten meist lokal beschränkt und ebneten zum Glück nach kurzer Zeit wieder ab. 1994 war das anders, es gab kein Halten. Als die Mörderkommandos der Hutus loszogen,
das Leben fast seiner gesamten Familie auslöschten, versteckte sich Englebert mit einigen wenigen in den umliegende Büschen und Sümpfen.
Ständig in Angst lebend, entdeckt und massakriert zu werden, hält ihn alleine die Solidarität und der Zusammenhalt unter der kleinen Überlebensgemeinschaft aufrecht. Sie stolperten über unzählige
Leichen, hatten Mühe, sich selbst in den Büschen ausreichend verbergen zu können. So mussten sie sich tagsüber meist bist zur Brust im Morast in den Sümpfen verstecken und trauten sich erst mit
Einbruch der Dunkelheit aus dem Schlamm, um ein wenig Nahrung zu suchen. Englebert überlebt so gesehen aus reinem Zufall, weil es wohl jemand wollte. Aber er hätte sich am Liebsten den Mördern
gestellt, damit endlich Ruhe ist. Nur die kleine Gruppe half ihm für sein Leben weiter zu kämpfen und schließlich zu überleben. Englbert hat das Massaker überlebt, aber ein normales Leben war von
nun an nicht mehr möglich. Er zieht nur noch durch die Straßen, um alle Getränke zu konsumieren, die er bekommen kann.
Seine Psyche, so Engelbert, hat der Genozid so verändert, dass er dem Alkohol einfach nicht widerstehen kann. Englebert war einst ein stolzer Mann mit edlen Klamotten, der Wert auf sein Äußerstes
legt. Nun ist er ein gebrochener Mann in Lumpen, der nur noch selbstbemitleidend vor sich hin siecht. Er kann einem nur leidtun, leidtun, wie er sich seine eigene Situation schönredet. Er
verleugnet Alkoholiker und postraumatisiert zu sein, rechtfertigt sein Verhalten, bei dem es nichts mehr zu rechtfertigen gibt. Am liebsten möchte man ihn wachrütteln!
Die Erzählungen zeigen, wie sehr traumatisiert die Menschen dort heute noch sind. Alkohol in jeglicher Form ist die scheinbar einzige Möglichkeit der Verdrängung des zumindest temporären
Vergessens. Oder ist es andersherum, gerade der Alkohol, der das Grausame immer wieder aus dem Unterbewusstsein hervorholt, einem gegenwärtig wird und man es mit Alkohol hinunterspülen möchte.
Ein grausamer Teufelskreis. Der tiefe Blick in das Seelenleben von Englebert zeigt, was die Erfahrung mit Gewalt aus Menschen machen kann. Erfahrungen, die wir auch anhand der Überlebenden von
den ebenso über 20 Jahre zurückliegenden Genozid in Srebrenica machen, aber die wir auch heute immer wieder vor Augen geführt bekommen, wenn Flüchtlinge aus Aleppo in Syrien berichten.
Englebert’s „Stimme der Opfer“ heben das Buch ab von einer rein prozessorientierten Abhandlung, die nur Daten und Fakten aneinanderreiht und kurz bewertet. Er leidet unter völligem
Realitätsverlust, hat jegliche Selbstachtung verloren, irrt mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit traumatisiert durchs Leben. Und wenn man sich vor Augen führt, dass noch viel andere wie
Engelbert durch Ruanda vor sich hinsiechen, kann man sich vorstellen, wie schwer ein Aufbruch dort möglich ist. Engelbert fühlt sich selbst unfähig zu arbeiten, auch aus Angst, dass der ihm
gegenüber ein Mörder gewesen sein könnte. Die beschriebene Emotionen zeigen, dass man eine Versöhnung zwischen Hutu und Tutsi nicht von oben herab anordnen kann. Hier erfordert es Menschen, die
aufeinander zugehen, gemeinsam verarbeiten und nur so die Geschichte zwar nicht begraben, aber zumindest bedecken können.
Fazit: Das Buch „Plötzlich umgab uns Stille“ zeigt wieder einmal, dass Geschichte am besten durch Zeitzeugen erzählt werden kann. Hatzfeld beschäftigt sich nun seit über 20 Jahren mit dem
Genozid in Ruanda. Dieses Mal lässt er ein einzelnes Oper stellvertretend für 800.000 zu Wort kommen und er lässt die Monologe Engleberts unkommentiert. Treffender kann man das eigentlich
Unbeschreibliche nicht beschreiben. Sätze wie „selbst die wilden Tiere weigerten sich, dies mit anzusehen“ kann man nichts hinzufügen. Die Beschreibungen des Englebert gehen unter die Haut,
werden mich ein Leben lang berühren und man kann nur hoffen, dass seine Erzählungen dazu führen, dass sich so etwas nie wieder an keinem Platz der Welt wiederholen wird.
Andreas Pickel
© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth