Eberhard Rathgeb: Am Anfang war Heimat

Auf den Spuren eines deutschen Gefühls

München ; Blessing Verlag ; 2016 ; 383 Seiten ; ISBN 978-3-89667-541-5

 

Im Zuge der allgegenwärtigen Flüchtlingskrise fallen immer wieder Worte und Sätze wie „Heimatvertriebene“, heimaltlos“, „werden ihre zerstörte Heimat nie wieder sehen“ oder auch „wurden ihrer Heimat entrissen“. 14 Millionen Deutsche verloren nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat und wurden aus den ostdeutschen Reichsgebieten vertrieben. Zwei Millionen kamen im Zuge dieser Vertreibung aus der Heimat ums Leben. „Heimat wird einem durch Geburt und Glück geschenkt, aber von Menschen weggenommen und zerstört“, so Eberhard Rathgeb in seinem neuen Buch „Am Anfang war Heimat“. Aber was ist eigentlich „Heimat“? Haben wir alle das gleiche Verständnis von Heimat oder ist es Interpretationssache, abhängig von der Situation, dem Alter, dem Milieu, in dem man aufgewachsen ist? Warum werden Menschen ihrer Religion oder Rasse wegen aus einem Land vertrieben oder gar ermordet, so wie vor über 70 Jahren die Juden aus Deutschland, 1994 800.000 Tutsi in Ruanda oder Sunniten aus Syrien, und wieso sprechen die Vertriebenen doch weiter von dem Land, aus dem sie vertrieben wurden, von ihrer Heimat? Fragen, aktueller denn je, denen jetzt der renommierte Autor Rathgeb (u.a. „das Paradiesghetto“) in seinem neuen Buch auf die Spur geht.

Rathgeb betrachtet das komplexe Thema aus deutscher Sicht: Wie kommt es, dass jemand fühlt und empfindet, dass Deutschland seine Heimat ist? Eine komplizierte Frage mit einer noch viel komplizierteren Analyse und Spurensuche. Nicht alleine der Umfang des Buches von immerhin knapp 370 Seiten zeigt die Schwierigkeit, sich dem Thema zu nähern.

Dem „roten Faden“ des Buches ist nicht ganz einfach zu folgen, aber Rathgeb muss aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln argumentieren, um bei seiner Definitionssuche plausibel und so allgemein wie nur möglich zu bleiben. Rathgeb selbst wurde 1959 in Buenos Aires geboren und zog mit vier Jahren mit seiner im Zweiten Weltkrieg nach Argentinien geflüchteten Familie nach Deutschland zurück. Schwerpunkt ist die Betrachtungsweise aus der Perspektive seine Vaters, aber auch Philosophen, Historiker, Schriftsteller und Dichter kommen zu Wort, um Erfahrungen, Gedanken und vor allem auch Gefühle preis zu geben. Diesem Ansatz folgend distanziert sich Rathgeb so von dem teils stereotypen „Scheuklappendenken“ den Begriff „Heimat“ betreffend in unserer Gesellschaft und nähert sich dem Begriff von unterschiedlichsten Seiten, auch wenn es, so viel vorweg, schlussendlich keine klare Definition gibt.

Der Vater gab dem Autor den Antrieb zu diesem Buch. Von den Nazis vertrieben flüchtete er nach Argentinien. Obwohl er dort, wo er aufgewachsen ist, vertrieben wurde, eingefleischte Nazis, die mit dafür verantwortlich waren, dass Millionen von Juden ermordet wurde zu seinem Bekanntenkreis und seiner Nachbarschaft gehörten, wollte er unbedingt wieder zurück nach Deutschland, zurück in seine „Heimat“. Warum kehrt man zurück? Weil man seine Heimat nicht zurück lässt, war und komme, was wolle oder weil man sich verpflichtet fühlt, an der Neugründung des nazifreien Deutschlands mitzumachen? Vor der Machtübernahme Hitlers war die Generation von Rathgeb’s Vater mit all seinen Fasern des Fühlens und Denkens mit Deutschland verbunden. Dann kamen die Nationalsozialisten die sich jedoch nur für Rasse und Blut interessierten. Man konnte zwar in der Flucht seine Heimat nicht mitnehmen, aber zumindest Teile der Kultur, Teile des Gefühls (eine Interpretation, die man auch in der heutigen Flüchtlingsdiskussion verfolgen kann, argumentieren doch die Gegner, dass uns die Flüchtlinge mit ihrer Kultur überrollen werden). Mit dem Einmarsch der Alliierten waren die Nazis, das pure Rassedenken, weg und die Zurückgehrten konnten das ganze Gefühl von Heimat wieder in der Heimat aufleben lassen.

Heimat ist auf alle Fälle nicht als Synonym für „national“ in den Feldern Musik, Kultur, Vereinsleben etc. zu gebrauchen. Heimat hat vielmehr mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu tun, zugehörig zu dem, was man schon als Kind spürt, atmet aufnimmt. Für Rathgeb‘s Vater hat man in der Heimat eine Art Wohnrecht auf Lebenszeit, die verstößt einen nicht. In der Heimat geht es einem gut, es geht dort einem besser, wie andere und es soll alles so bleiben, wie es ist. Deshalb wendet man sich ggf. gegen Fremde, die ihnen dann etwas wegnehmen könnten (z.B. Arbeit, kulturelle Identitäten), was diesen so beschaulichen Status quo stört. In seiner Heimat braucht man keine Aufregungen, Veränderungen und Abwechslung. Man ist zufrieden, wenn man in Ruhe auf seinem Flecken leben kann. Heimat könnte überall sein, wo Menschen sich wohlgesonnen sind, so der Autor. Aber die Reichen mögen die Armen nicht, viele mögen die Flüchtlinge nicht, obwohl sie keinem etwas zuleide tun. Man baut sich Zäune um seine Heimat und Flüchtlinge fühlen sich so ausgeschlossen, als wirklich Fremde wahrgenommen.

Heimat ist im Prinzip eigentlich grenzenlos und man kann sie sich eigentlich nicht aussuchen. Man wird irgendwo hineingeboren oder als Kind mit hingenommen und versucht dann dort heimisch zu werden. Die Familie war für Rathgeb die zunächst kleinste Form der Heimat, in der man aber eigentlich ein Leben in der Illusion lebte, um diesem Heimatbild auch nach außen zu entsprechen. Irgendwie ist Heimat ohne Tradition auch nicht zu haben. Die Heimat ist so, wie sie ist, aber kann sie sich deshalb im Laufe des Lebens nicht doch ändern, unterliegt sie nicht auch Stimmungen? Für Rathgeb’s Vater war Heimat nur stabil, wenn sie vergangen war. Gelebte Heimat ist dagegen Veränderungen ausgesetzt, die sogar dazu auffordert, die Vorstellung von ihr zu verändern. Grenzenlos ist die Heimat insbesondere aber auch im Zeitalter der heutigen globalen Medien. Mit Internet, Smartphone ist man ohne Zeitverzug an jedem Ort der Welt, kann mit jedem dort kommunizieren. Die Netzwerke von Fluglinien, Internet und Finanzhandel werden immer dichter geknüpft, die klare Unterscheidung zwischen unmittelbares Umfeld und Peripherie, was ist noch Nachbarschaft und was nicht, neu definiert. Alles, auch was weit weg passiert, wird unmittelbar, alles hat irgendwie mit mir zu tun. Aber dies kann nicht Heimat sein, Heimat hat doch vielmehr was mit Gefühlen und Gedanken zu tun.

Der Begriff „Heimat“ mag gerade im Zeitalter der grenzenlosen Kommunikation altmodisch oder neudeutsch „outdated“ sein, aber, so Rathgeb, und deshalb die Einlassungen von Dichtern und Philosophen, der Begriff ist auch ein Symbol für die Einheit von Sprache, Denken und geistiger Ausrichtung und das gilt stets. Aber, so der Autor, heute gibt selbst das Volk keinen Anhalt mehr für Heimat. Das Volk war früher ein lebendiger Organismus, dessen Einheit seine Seele, dessen Gestalt seine Kultur war und dessen Geschichte davon erzählte, wie die eine zur anderen fand. Das fehlt heute aus vielerlei Gründen. Gerade deshalb sollte man sich im Zeitalter von Globalisierung damit beschäftigen, man sich ermutigt fühlen, seiner eigenen Heimat nachzugehen. Dies, bekräftigt der Philosoph Heidegger, ist im ländlichen Bereich mit Ruhe, Idylle und stabilen Beziehungen einfacher, als in den hektischen Groß- und Industriestädten. Rathgeb kann dafür kein Rezept, sondern nur Anhaltspunkte geben und Anregungen machen. Jeder muss seinen eigenen Weg zu seiner Heimat finden.

Auch wenn Rathgeb manchmal in familiäre Sentimentalitäten abschweift, gelingt ihm eine vortreffliche Beschreibung des deutschen Heimatgefühls, mit der man sich vor allem identifizieren kann. Heimat hat viel mit Gefühl, Geborgenheit, familiäre Wärme zu tun, trotzdem spürt man Heimat oftmals erst mit der Weisheit des Rückblicks oder wenn es einem fehlt. Man hat Sehnsucht nach „Heimat“, wenn sie nicht da ist, also eine Art Heimweh nach Heimat. Ob dies einfach auf andere Länder, auf die bei uns aufgenommenen Flüchtlinge und deren Gefühle und Empfindungen übertragen werden kann, wage ich angesichts komplett unterschiedlicher Geschichte, Religion und Kultur zu bezweifeln. Der Fliehende, der Flüchtling von früher verlässt Heimat und will da wieder zurück. Wie sich das auf die derzeitige Flüchtlingssituation in Deutschland übertragen lässt, ist schwer zu sagen. Viele äußern sich dahingehend, Aspekte ihrer persönlichen Heimat wie Familie, Sprache, Kultur eher nach Deutschland transportieren zu wollen, als zurückkehren zu wollen. Andererseits fühlen sich viele Einheimische durch Fremde in ihrem Heimatgefühl eingeschränkt. Das Buch pendelt diesen Zwiespalt hervorragend aus: es vermittelt uns ein Gefühl für die Empfindungen der Vertriebenen und auch andererseits ganz für uns selbst, vielleicht so etwas wie ein Heimatzusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln, ohne in rechtspopulistische Propagandabegriffe wie „völkisch“ oder „germanische Lebensgemeinschaft“ zu verfallen. Die Gedanken- und Gefühlswelt von Rathgeb, die uns zu „Heimat“ führen sind absolut empfehlenswert.

Fazit: Dem Autor gelingt eine vortreffliche Beschreibung des deutschen Heimatgefühls. Rathgeb erklärt, wie er zu seinem Heimatgefühl kam und regt damit uns an, unserer ganz persönlichen Heimat nachzugehen, zu ergründen, zu spüren. Ein Buch, das man einmal begonnen, nicht so schnell mehr aus der Hand legt.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth