Patrick Kingsley: Die neue Odyssee

Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise

München ; C.H. Beck ; 2016 ; 331 Seiten; ISBN 978-3-406-69227-7

 

„Permanent Uppehällstillständ“, was schwedisch ist und so viel heißt wie „unbefristete Aufenthaltserlaubnis“, steht als eine Art „Happy End“ am Ende des Buches von Patrick Kingsley “Die neue Odyssee“. Aber welchen Parforceritt man in den 300 Seiten vorher von Zentralafrika und Syrien über Libyen und Ägypten, Griechenland und Italien bis schließlich nach Schweden vollzieht ist alles andere als „happy“, sondern die Beschreibung einer hochgradig menschenunwürdigen Flucht unter den Augen von uns Europäern, die gerade immer wieder die Menschrechte hochhalten. Wenn man dann das Buch beiseite legt, ist in den Gedanken erst einmal Schweigen, zutiefst beschämendes Schweigen.

Patrick Kingsely ist erst 27 Jahre alt, aber was und wie er berichtet ist im negativen Sinne bedrückend. Nach seinem Studium wurde er mit nur 23 Jahren der Ägypten-Korrespondent der britischen Zeitung „The Guardian“, bevor er dann letztes Jahr zum weltweit ersten Migrationskorrespondent dieser Zeitung wurde. Kingsley verlässt sich nicht auf Gespräche mit Asybewerbern hier in Europa, schreibt auf Grundlage von Berichten in den Medien, nein, er ist im wahrsten Sinne des Wortes „embedded“, reist mit den Migranten mit, vom Ort des Aufbruchs, den Quellen der Massenflucht, über Libyen bis nach Europa, spricht unmittelbar mit Schleusern, was nicht ganz ungefährlich ist, mit Vertretern von Hilfsorganisationen als auch mit Beamten, die versuchen die EU- oder Landesgrenzen zu sichern oder mit von der Fluchtwelle betroffenen ganz normalen Bürgern. Insgesamt 17 Länder auf drei Kontinenten hat der Autor für sein Buch bereist. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven und Erlebnissen hat er einen wahrlich beeeindruckenden zusammenhängenden Flickenteppich geknüpft. Klammer zwischen all diesen Berichten ist die Beschreibung, die Gedanken und Emotionen der beschwerliche Reise des Syrers Haschem al-Souki, dem eigentlichen Protagonisten des Buches.

Patrick Kingsley berichtet und bewertet nicht die große Politik, beteiligt sich nicht an dem teils polemischen „Geschwätz“ in allen möglichen Talkshows, nein, beim ihm stehen die Menschen im Mittelpunkt, Menschen die auf beiden Seiten der Medaille stehen, Schleuser und vor allem die Flüchtlinge und Migranten. Es geht ihm nicht um das „warum“ der sinnlosen Besprechungen auf europäischer Ebene zur Verteilung der Flüchlinge, um die teils stark divergierenden Standpunkte der Mitgliedsstaaten, um das zunächst administrative (Aufnahme-)Chaos zum Beispiel in Deutschland, nein, es geht primär um die, die all die Leiden auf sich nehmen, um über den Land- oder Seeweg nach Europa kommen oder kommen wollen. Warum verlassen Menschen ihre Heimat, machen sich auf einen tausende Kilometer langen beschwerlichen Weg, bezahlen im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem letzten Hemd für diese Reise und nehmen zuletzt in absolut seeuntüchtigen Schiffen den Weg über das Mittelmeer auf sich, der in vielen Fällen auch zum Tode führen kann? Weil es um ihr Leben geht! Alleine dieser eine Satz sollte jedem einleuchten, dass man diese Menschen nicht mit der Drohung „Abschiebung“ abschrecken kann. Die schrecklichen Erlebnisse in der Heimat, die Fluchtursachen sind offensichtlich so gravierend, dass diese Menschen es in ihrer Verzweiflung immer wieder versuchen werden. Die Ursachen sind vielfältig, zwischen- und innerstaatliche Kriege, Militärdiktaturen, Unterdrückung religiöser und politischer Minderheiten, wirtschaftliche Not, Klimakatastrophen. Diese Menschen lassen sich nicht von irgendwelchen Grenzschutzmassnahmen aufhalten, die Not ist größer. Es geht also in Europa nicht um das „ob“ oder „wie aufhalten“, sondern um das „wie integrieren“. Das ist auch die Kernbotschaft von Kingsley. In Agadez trifft Kingsley einen Mann, der ihm deutlich macht, dass die Migranten lediglich die Reise wiederholten, die einst auch von jenen unternommen wurden, die Afrika kolonisierten. Der weiße Mann hatte auch kein Visum, als er nach Afrika kam und man hätte vom weißen Mann gelernt!

Aber bei Kingsley kommt auch die andere Seite nicht zu kurz, der Handel mit Menschen ist mittlerweile ein immenser Wirtschaftszweig geworden (Smuggling Business Model), an dem viele einschließlich Sicherheitsbehörden mitverdienen. Dazu werben die Schleuer ganz offen auf Facebook für ihre Zwecke. Das Geschäft ist mittlerweile so gut verwurzelt, dass etwaige Gegenmaßnahmen von EU Politikern ins Leere greifen – meist sind die auch nur dazu da, potentielle Wähler im eigenen Land zu beruhigen. Gerade die Lage in Libyen ist lebensbedrohlich für die Migranten. Einst fand man hier Arbeit, genügend Arbeit um auch die Familie Zuhause zu ernähren. Heute aber fehlt jeglicher Schutz, so dass die Migranten sich lieber auf dem Weg über das Mittelmeer machen. Die Menschen werden von Schleusern teils schlimmer wie Tiere in Zwischenlagern gehalten, die Vergewaltigung von Frauen ist an der Tagesordnung. Aussagen wie: „Man verabscheut sich selbst. Man hasst sich dafür, dass man ein Mensch ist“ sollten eigentlich aufschrecken. Aber auch wenn die Menschen in Europa angekommen sind, werden sie in einigen Ländern in den Auffanglagern wie bei Massentierhaltung behandelt. „Man hat uns wie Vieh behandelt, überall, wo wir hingekommen sind“ so ein Flüchling. Dies gilt für Italien gleichermaßen wie für Griechenland oder auch Ungarn. Jeder sieht das Elend, aber so schlimm das ist, noch schlimmer ist, dass niemand Verantwortung übernehmen will.

Auch mit einem derzeit sehr aktuellen Thema rechnet er ab, der Rückführung der Flüchtlinge entweder in ihre vermeintlich so sicheren Herkunftländer, z. B. Afghanistan oder in vermeinlich sichere Drittstaaten. Die meisten fliehen, weil sie um ihr Leben fürchten müssen, sei es wegen einer anderen Religion oder z. B. nicht für die Taliban kämpfen möchten und wir bringen Sie dahin zurück? Zu dieser schrecklichen Einschätzung kommt Kingsley 2015 und sie gilt unverändert heute noch.... trotzdem wird abgeschoben. Aber welche Werte wollen wir dann eigenlich noch vor Mirgranten schützen, wenn wir uns so verhalten? Laut dem Autor muss Europa das Unvermeidliche akzeptieren und die Migranten in einer besser organisierten Art und Weise einreisen lassen, anstelle diesen chaotischen Prozess so weiterlaufen zu lassen. So hat man vor allem keinen Überblick, wer wo wann einreist, man hat die Situation besser im Griff. Die Diskussionen dazu laufen nicht nur in Deutschland.

Glaubt man den Recherchen von Patrick Kingsley wird die Anzahl der Flüchtlinge nicht weniger werden, Abschottung hin oder her. Dabei widerlegt er auch die These, dass militärische Operationen im Mittlemeer wie z. B. Mare Nostrum einen ungewollten „Pull-Faktor“ darstellen. Militärische Aktionen werden das Problem der Migration der verzweifelten Menschen nicht lösen. Die Flüchlingskrise wurde zur größten Bedrohung des Zusammenhalts der Europäischen Union seit ihrer Gründung. Gerade die Politker igonierten die Realität, entwickelten in purem Aktionismus immer neue sinnlose Pläne zur Bewältigung der Flüchtlingsströme, aber die Menschen kommen weiter. Auch wenn die Konflikte in Syrien und Afghanistan, also aus dem Nahen und Mittleren Osten oder auch der Bürgerkrieg in Libyen – wider Erwarten – schnell gelöst werden sollten, der Strom an Verfolgten und Kriegsgeschädigten aus Ostafrika, z. B. Eritrea oder aus dem Niger-Gebiet wird nicht abreißen. Für den Autor ist gerade Eritrea „zu einer Hölle auf Erden geworden, zu einer Hölle für seine Bewohner“. Jedem sollte bewusst sein, dass auch nach dem Zweiten Weltkrieg die große Füchtlingswelle erst dann einsetzte, als alle Kampfhandlungen zu Ende waren. Dann steht uns noch so einiges bevor. Die Gründe, sich auf eine jahrelange beschwerliche und menschenunwürdige Reise, die mit dem Tod enden kann, einzulassen, sind so gravierend, dass offensichtlich nichts und niemand den Strom reduzieren können. Anstelle also weiter über Möglichkeiten der Eindämmung zu diskutieren, sollte man stattdessen besser den Realitäten ins Auge sehen und sich damit vielmehr der Verbesserung der Möglichkeiten von Integration widmen. Zu diesem klaren Schluss kommen auch die Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler und ihr Mann, der bekannte Politikwissenschaftler Herfried Münkler in deren Buch „Die neuen Deutschen“.

Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki sagte in einem Intervierw am 6. November so treffend: „3.800 Menschen - eine ganze Kleinstadt voller Menschen. Auf ihrer Flucht qualvoll ertrunken. In dem Meer, wo viele von uns gerade ihren Urlaub verbracht haben. Sollen wir das Mittelmeer nicht konsequenterweise zukünftig “Totes Meer” nennen?" ... "Es wird dunkel in unserem christlichen Abendland, wenn wir all den Ertrunkenen nur noch hilflos die Augen zudrücken.” Eine gesamteuropäische Lösung stelle er sich anders vor, als die Kriegsflüchtlinge, Schutz- und Asylsuchenden Tag für Tag weiter ertrinken zu lassen. „Warum gelingt es uns nicht, endlich sichere Fluchtwege einzurichten, warum nicht legale Einreisemöglichkeiten?” Dem ist nichts hinzuzufügen, genauso wie dem Buch von Kingsley, das absolut zu empfehlen ist.

 

Fazit: Beeindruckender Parforceritt über 300 Seiten von Zentralafrika und Syrien über Libyen und Ägypten, Griechenland und Italien bis schließlich nach Schweden und gleichzeitig Beschreibung einer hochgradig menschenunwürdigen Flucht.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2016 Andreas Pickel, Harald Kloth