Gabriel Gorodetsky: Die Maiski-Tagebücher

Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943

München ; C.H. Beck ; 2016 ; 896 Seiten ; ISBN 978-3-406-68936-9

 

Es ist wie in jeder Krise, die in einem blutigen Krieg endet: Bevor zig Millionen von Soldaten und schweres Kriegsgerät mit der Folge von Abertausenden, im Falle des „Zweiten Weltkriegs“ sogar Millionen von toten Soldaten und Zivilisten einen Krieg in die eine oder andere Richtung entscheiden, schlägt die Stunde der Diplomatie. Wie schon der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780 bis 1831) in seinem berühmten Werk „Vom Kriege“ richtig anmerkte: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln“. Ein exzellentes Beispiel dafür sind die Erkenntnisse aus den erst kürzlich publizierten „Maiski-Tagebücher“. Eine unabdingbare Lektüre für diejenigen, welche die Zusammenhänge gerade in den Zeiten 1937 bis zum Kriegsausbruch 1939 besser verstehen möchten.

 

Maiski, von 1932 bis 1943 russicher Botschafter in London, hat akribisch Buch geführt über seine Gedanken, Gespräche und Berichte zu außen-, sicherheits- aber auch gesellschaftspolitischen Ereignissen seiner Zeit. Schwerpunkt sind natürlich die Ereignisse in Großbritannnien und in seinem eigenen Land. Insgesamt erlebte und überlebte er in dieser Zeit fünf Premierminister und drei Könige. Seine Aufzeichnungen, die 1934 auf einem Tiefpunkt der Beziehungen zu Großbritannien begannen, sind mehr als bemerkenswert in einer Zeit, in der russische Diplomaten ständig fürchten mussten, der Säuberungswelle Stalins zum Opfer zu fallen. Vor Jahren nun entdeckte der israelische Historiker Gabriel Gorodetzky Maiski’s Tagebücher und publizierte eine englisch- und russischsprachige Auflage in drei Bänden. Dazu hat er nun für ein breiteres Publikum eine auch in deutscher Fassung verfügbare Kurzfassung herausgegeben, die in etwa ein Viertel des Gesamtumfangs ausmacht und mit Bildern, Kommentaren des Autors sowie Ausschnitten aus den Memoiren Maiskis unterlegt ist.

 

Maiski‘s Berichte geben einen tiefen Einblick in die russische, aber auch britische Gedankenwelt, dem aufstrebendem Deutschen Reich mit seinem Diktator Adolf Hitler zu begegnen. Gerade der Kampf und Versuch Maiskis, Russland, zusammen mit Frankreich und England zum Schutz vor dem nationalsozialistischem Deutschland in ein System kollektiver Sicherheit einzubetten zeugt von den Existenzängsten des durch innenpolitischen Kämpfen zerrütteten Staats. Wie virulent diese Existenzangst war zeigen dann 1941 deutsche Panzer wenige Kilometer vor Moskau. Aber es war auch ein Existenzkampf von Maiski gegen seinen eigenen Staat, musste er doch ständig fürchten, von dem der NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) unterstellten Geheimpolizei GPU verhaftet zu werden. Dies war bei weitem nicht paranoid, in der Zeit des sogenannten “Großen Terrors” wurden alleine von Juli 1937 bis Mitte November 1938 etwa 1,5 Millionen Menschen verhaftet, von denen etwa die Hälfte erschossen, die anderen bis auf wenige Ausnahmen inhaftiert wurden. 1953 wurde er dann auch noch als angeblich britischer Spion verhaftet, allerdings rettete ihm der Tod Stalins kurze Zeit später das Leben. Trotzdem werden seine Aufzeichnungen konfisziert, bleiben auch nach seiner Rehabilitierung 1955 unter Verschluss und werden Maiski nur kurz für das Schreiben seiner Memoiren zur Verfügung gestellt. Maiski starb erst 1975 im respektablen Alter von 91 Jahren.

 

Maiski’s Aufzeichnungen sind natürlich subjektiv, oftmals auch abhängig von Stimmungen und Stimmung. Aber sie sind authentisch und offenherzig und bieten einen bis dato noch nicht gegebenen Einblick vor allem in die britische Appeasement Politik. Maiski sieht früh die verfehlte britische Politik, Hitler immer mehr und mehr Zugeständnisse zu machen, aus britischer Sicht des Gesamtfriedens willens, und mit der Weisheit des Rückblicks hatte er Recht. Beharrlich verfolgte er die Wiederbelegung des Konzepts der kollektiven Sicherheit und versuchte, allerdings vergeblich, Schlüsselfiguren und Lobbyisten der britischen Außenpoliitk von seiner Sichtweise zu überzeugen, um so Einfluss auf Chamberlain zu nehmen. Aber entweder standen Sie loyal zu ihrem Premierminister oder Chamberlain ignorierte alle Ratschläge und Indikatoren und ging stur seinen eigenen Weg. Selbst der britische Kriegsminister Leslie Hore-Belisha berichtete ihm, dass der Premierminister nach dem Münchner Abkommen am 30. September 1938 davon überzeugt ist, dass er, wenn er nur Hitler und Mussolini mit Samthandschuhen anfasst, Europa den Frieden sichern wird. Maiski ging schließlich sogar so weit, britischen Oppositionellen Argumente und Gründe für den Sturz des Premierministers zu liefern. Insgesamt unterstellte er der britischen Administration komplettes Versagen, die Psychologie Hitlers zu verstehen. Einzig Churchill, zu dem er enge Beziehungen pflegte, ja, den er bewunderte, war für ihn der Rettungsanker. Als dieser in größter Not am 10. Mai 1940 Premierminister wurde (das Deutsche Reich war just in Frankreich einmarschiert) spürte Maiski eine große Erleichterung. Aber Maiski ist letztendlich so engstirnig denkend und verblendet nach einer sowjetisch – britisch – französischen Allianz, dass er selbst jegliche Kurskorrektur in seinem eigenem Land negiert und nicht sieht. So wurde er ziemlich überrascht vom Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt, bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, der am 24. August 1939 (mit Datum vom 23. August 1939) in Moskau vom Reichaußenminister Joachim von Ribbentrop und dem sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow in Anwesenheit Stalins unterzeichnet und publiziert wurde. Der Pakt garantierte dem Deutschen Reich die sowjetische Neutralität bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen und den Westmächten. Gorodetzky räumt in einen seiner exzellenten Schlussfolgerungen und Kommentaren mit Mythen den „Hitler-Stalin-Pakt“ betreffend auf. Die von Chamberlain am 31. März 1939 erklärte Garantie für die Unabhängigkeit Polens sollte Hitler von seinem Expansionsdrang abschrecken und an den Verhandlungstisch zurück bringen. Da Hitler allerdings zu diesem Zeitpunkt einen Zweifrontenkrieg vermeiden musste, trieb diese Garantieerklärung Hitler in die Arme der Sowjeunuon und damit in den berühmten Pakt von August 1939.

 

Auch zwei Jahre später verkannte Maiski die Situaiton, als er bis zuletzt jegliche Angriffswarnungen Nazi-Deutschlands vom Tisch wischte. Aber gerade dies macht Maiski auch menschlich und vergleichbare Lehren kann man auch für Heute ziehen: Trotz jahrzehntelang auf dem außenpolitischen Parkett agierenden und damit “mit allen Wassern gewaschenen” Politikern, unzähligen Instituten, die sich mit Tausenden von Analysten auf Prognosen und Frühwarnsystemen spezialisiert haben, wird man trotzdem immer wieder von Ereignissen überrascht, mit denen “niemand gerechnet hat.” Und das ist auch gut so: Wenn man die Zukunft nicht vorhersehen kann, kann man sie auch nicht manipulieren!

 

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs prägen dann die Spannungen zwischen Stalin und Churchill das Tagebuch, bis er dann, wie auch Litwinow, nach der Aufdeckung des Massakers von Katyn im März 1943 und dem darauf folgenden Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur polnischen Exilregierung im August 1943 von seinem Botschafterposten abberufen und auf dem einflusslosen Posten eines „stellvertretenden Außenministers“ abgestellt wurde.

 

Auch wenn Maiski manchmal dazu neigt, in persönliche Sentimentalitäten abzuschweifen, ist das Tagebuch eine vortreffliche Beschreibung der Hin- und Hergerissenheit zwischen Krieg und Frieden, zwischen Loyalität zu seinem Land und aktiv betriebener Politik aus Eigeninteresse. Mit Leidenschaft und Hingabe, die man in jedem Satz spürt, versucht er seine Sichtweise von „Balance of Power“ zu verbreiten, hervorragend vermittelt er Einblicke in den Geist und die Athmosphäre der damaligen Zeit und gibt uns eine umfassende Charakterbeschreibung aller Protagonisten. Geradezu humorvoll wird es, wenn er aus Sitzungen des englischen Unter- und Oberhauses berichtet (bei schlecht besuchten Sitzungen beschreibt er, dass die wenigen anwesenden Lords in dem riesigen Saal aussahen wie „Fliegen in der Milch) und dabei Redner u.a. beschreibt: „Mit seinem weißen Umhang, der von Weitem zerknittert und ungepflegt aussah, wirkte der Erzbischof wie ein großer Vogel mit gekrümmtem Schnabel“. Aber es sind eben nicht nur die Beschreibungen, sondern auch Gefühle, die vermittelt werden und die man spürt. Z.B. am 22. Juni 1941, unter dem Tagebucheintrag „Krieg!“, als Masiski erfährt, dass Hitlers Stalin den Krieg erklärt und die Wehrmacht die Grenze zur Sowjetunion überschritten hat. Zu allen Eintragungen stellen die eingefügten Kommentare von Gorodetzky sinnvolle Zusammenhänge her, berichtigen, wo angebracht und machen es weniger sattelfesten Lesern in Geschichte leichter, die Beschreibungen und Erzählungen einzuordnen.

 

Fazit: Insgesamt sind die Beschreibungen der inneren Stimmunge der beiden für Europa so wichtigen „Flügelmächte“ historisch interessant und spannend zugleich. Es zeigt sich erneut, niemand kann Geschichte so gut erzählen wie Zeitzeugen. Die Aufzeichnungen sind authentisch, sich mit den Gedanken- und Gefühlswelten von Maiski zu beschäftigen absolut empfehlenswert.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2017 Andreas Pickel, Harald Kloth