Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden
München ; DVA ; 2017 ; 366 Seiten ; ISBN 3-421-04730-8
Aus den unzähligen Publikationen über den Widerstand gegen Hitler stechen zweifellos diejenigen über die Widerstandsgruppe die „Weiße Rose“ hervor. Während sich aber viele Bücher meist auf die
Geschwister Scholl konzentrierten, chronologisch und durchaus spannend deren Weg in den Widerstand bis zum Tod durch das Fallbeil nachzeichnen, folgt nun die renommierte Autorin Miriam Gebhardt
einer anderen Spur der Widerstandsgruppe: Sie interessiert die Frage, warum ausgerechnet diese fünf jungen Leute und Freunde sowie ihr Professor, also vermeintlich ganz normale Leuten, sich aktiv
gegen Hitler und das Regime auflehnten, andere hingegen nicht, ja nicht einmal einen Gedanken daran verloren. Dies in Anlehnung aber Umkehrung der bisherigen Untersuchungen zu
„Täterpsychogrammen“. Stimulator war hier Harald Welzer, der in seinem vielbeachteten Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder
werden“ die These vertrat, dass die Vernichtungspolitik nicht mit genetisch bedingten Abläufen zu erklären ist. Der Weg zum Massenmörder war also nicht vorbestimmt, sondern es wurde vielmehr
aus Gründen getötet, die unter den Rahmenbedingungen der Wechselwirkung aus kulturellen und situationsbedingten Faktoren als selbstverständlich galten. Die Täter bewegten sich innerhalb eines
„normativen Referenzrahmen“ – es wurde etwas getan, was getan werden muss.
Anders verhält es sich bei den „Widerständlern“ Sophie und Hans Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und dem Philosophie-Professor Kurt Huber. Gebhardt gelingt es
hervorragend die Entwicklung und das Umfeld jedes einzelnen für sich zu beschreiben, beginnend bei deren Elternhaus und der Kindheit sowie vor allem ihre spätere Interaktionen untereinander. Fast
jeder hatte prägende Schicksalsmomente zu verkraften, Trennungen, wirtschaftliche Not, Todesfälle im engsten Familienkreis. Den Geschwistern Scholl bescheinigt sie ein außergewöhnlich elitäres
Selbstbewusstsein. Daneben lernten sie schon früh in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater sich zu profilieren und einen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Gerade Sophie Scholl wird als
teils „hin- und hergerissene“ Frau beschrieben, stark introvertiert, uneitel und moralischer als vergleichbare junge Frauen. Generell fühlte sie sich eigentlich lieber alleine wohler als in
Zweierbeziehungen und vor allem in Gruppen. Mit ihrer auch nach außen getragenen Intellektualität bildete sie einen Gegenpart zu den damaligen Geschlechternormen. Die Vernehmungsprotokolle nach
ihrer Verhaftung betrachtend bestätigt Gebhardt deren Ruf als charakterlich unbestechlich, hält allerdings im Gegensatz zu anderen Autoren Sophie Scholl für zu Unrecht als die Hauptaktivistin der
Widerstandsgruppe.
Neben der individuellen Entwicklung ist aber viel interessanter die Frage, wo gibt es Gemeinsamkeiten, einerseits bereits in der Zeit, bevor sie sich trafen und dann auch als sie Freunde wurden?
Alle Mitglieder der „Weißen Rose“ waren zu einem gewissen Grade Persönlichkeiten mit hohem Intellekt, Willen und musischer Begabung. Sie waren politisch sozialisiert und hatten ein mehr oder
weniger gemeinsames Politikverständnis und gemeinsam ethische Prinzipien. Bücher, auch und gerade verbotene, spielten bei allen eine herausragende Rolle, gelesene Bücher wurden in der Gruppe
reflektiert und diskutiert. Trotz „individualistischer Lebensentwürfe“ waren sie Gemeinschaften mit gemeinsamen Ideen und Idealen nicht abgeneigt. Im Gegensatz zur Masse der Deutschen ließen sie
sich schon früh von den anfänglichen Erfolgen des Regimes nicht blenden und durchschauten früh das hohle Versprechen der gerechten Volksgemeinschaft. Als Hauptgrund für den Weg in den Widerstand
ist jedoch wohl allen gemeinsam der innere Antrieb, sich gegen jeglicher Autorität zu wehren aber vor allem die absolute Priorisierung der inneren Autonomie: Das von eigenen Werten geleitete
Denken und Handeln. Die jeweils individuelle Vorstellung eines zufriedenstellenden Berufs- und Privatlebens war mit der nationalsozialistischen Realität eines diktatorischen Staatswesens, in dem
das Volk alles und das Individuum sich dem unterzuordnen hat, nicht realisierbar. Wenn der Staat die Lieder, die man singen und die Bücher die man lesen sollte, ja sogar die Bekleidung
vorschrieb, war der Weg in den Widerstand die einzige Möglichkeit, seine Ideale weiterzuleben. Die Freunde genossen die Freiheit, wollten diese so weit als möglich nutzen, ausnutzen, aber das war
in diesem System in vielerlei Hinsicht nicht möglich. Die Widersprüche zwischen den eigenen Werten und den ihnen auferlegten Grenzen des Systems sowie Einschränkungen in ihrer Jugendkultur in
Verbindung mit moralischer Verpflichtung brachten sie zusammen.
Es gab sicherlich nicht DAS Ereignis und DAS gemeinsame Element, DAS gemeinsame Gruppeninteressen, welches die Gruppe letztlich zu Aktionen bis in den Tod zusammenführte, es waren vielmehr
verschieden Beweggründe, individuelle und gemeinsame Lernprozesse, die sie aktiv gegen das brutale Unrechtsregime auflehnen ließen. Dazu, so die Autorin, passt es auch ins Bild, dass es kein
bestimmtes Datum oder Aktion gab, an dem man den Beginn der „Weißen Rose“ festmachen kann. Es war vielmehr ein schleichender Prozess der Entfremdung von der nach und nach gleichgemachten und
uniformierten Umwelt. Die Dynamik der häufigen Begegnungen bei Musik, Studium und politischen Diskussionen, der eigene aber doch allen gemeinsame bürgerliche Lebensstil, der immer mehr
eingeschränkt wurde, sowie die nach und nach größer werdenden Freundschaften unter allen führte zu dem Schritt in den aktiven Widerstand. Aus Ablehnung wurde 1942 schließlich aktive
Auflehnung.
In den letzten Wochen vor der Verhaftung ging es dann „Schlag auf Schlag“. Seit Sommer 1942 formierten sich neben Hans Scholl und Alexander Schmorell mit Christoph Probst und Sophie Scholl und
wenig später außerdem Willi Graf und Kurt Huber die Kerngruppe der "Weißen Rose". Darüber hinaus versuchten Hans Scholl, Schmorell und Graf nach der Rückkehr von der Ostfront im Herbst 1942
Kontakte zu anderen Oppositionellen aufzubauen. Nach der Orientierungs- und Diskussionsphase gingen sie nun dazu über, mittels Flugblätter das Regime mit den Waffen des Wortes zu bekämpfen.
Zwischen dem 27. und 29. Januar 1943 erschien das fünfte Flugblatt, mit dem sie erstmals die breite Masse zum Handeln bewegen wollten: In ihren Augen war eine Invasion vom Westen aus nur noch
eine Frage der Zeit. "Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern!" Man müsse sich jetzt vom Nationalsozialismus befreien, denn sonst würden die Deutschen "dasselbe Schicksal
erleiden, das den Juden widerfahren ist." Als Zukunftsszenario entwarfen sie ein föderatives Deutschland in einem vereinten Europa. Am 18. Februar 1943, dem Tag als Göbbels in seiner berühmt
berüchtigten Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ aufrief, wurden die Geschwister Scholl bei der Verteilung des sechsten Flugblattes festgenommen. Vier Tage werden sie der psychisch unmenschlichen
Verhör- und Vernehmungsmaschinerie der Gestapo ausgesetzt und dann hingerichtet. Alle weiteren Mitglieder der Kerngruppe wurden alsbald ebenso festgenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Insgesamt werden 8 Prozessen gegen 49 Angeklagte geführt. Um den Zynismus des Regimes zu unterstreichen, es wurden die Angehörigen von der Schnelligkeit der Verfahren und Hinrichtungen
schlichtweg überrumpelt – oftmals war nicht einmal eine letzte Verabschiedung erlaubt.
Nach dem Krieg dauerte es, bis die ermordeten Widerständler zu ihrer verdienten posthumen Ehre kamen, personelle Kontinuitäten an entscheidenden Stellen der öffentlichen Verwaltung sowie in
politischen Ämtern verhinderten dies lange Zeit. Wer war eigentlich „Opfer“ und wer „Täter“ fragt man sich nicht unberechtigt? Aber auch durch die Hinterbliebenen ging ein großer Riss. Angefangen
bei dem ersten Buch von Inge Scholl, der älteren Schwester von Hans und Sophie, die ausschließlich die Aktionen und das Wirken ihrer Geschwister für den Widerstand hervorhob, wurden auch später
die wichtigen und teils tragenden Rollen der anderen Aktivisten sehr zu Unrecht und zum Unmut von Verwandten vernachlässigt. Alle, so Gebhardt, gelten als pädagogische Vorbilder, die in dem, was
sie machen mussten, Arbeits- und Kriegsdienst, Familiendienst, Studium, Verantwortung den meisten heutige Jugendlichen in dem gleichen Alter voraus waren. Heute brauche viele Jugendliche keinen
Widerstand mehr leisten, da ihnen jeder Wunsch von den Lippen abgelesen und erfüllt wird.
Gebhardt öffnet mit ihrem Buch Raum für neue Diskussionen, fragt sie doch nicht, warum Menschen zu Täter wurden, sondern im Gegensatz dazu immun blieben gegen die permanente Indoktrination durch
Propaganda sowie ständiger Überwachung und in den Widerstand gingen. Nun würde noch die vergleichende Betrachtung fehlen, warum der eine zum Widerstandskämpfer, der andere, vielleicht sogar der
unmittelbare Nachbar, zum Mittäter wurde. Die „Weiße Rose“ zeigt das andere Deutschland aber leider auch, dass Widerspruch und Widerstand zwangsläufig zum Tode führten.
Auch wenn nicht alle Argumentationsketten logisch erscheinen und bis in die letzte Konsequenz nachweisbar sind, Gebhardt muss sich doch auf viele Indizien berufen, die Autorin entmythologisiert
die Gruppe derart, dass sie nicht als Helden stilisiert werden können und sich damit eben nicht von dem Rest der (untätigen) Deutschen abheben lassen. Nach intensivem Studium aller Dokumente und
Berichte des Lebens, der Taten und auch der Denkweise der Mitglieder widerspricht sie vielen bisherigen Autoren über die Weiße Rose. So hatten für sie z.B. die fürchterlichen Bilder und
Erlebnisse an der Front keine fundamentale Bedeutung für den Weg in den Widerstand. Auch die fehlgeschlagene Beteiligung an der HJ war nicht wie für viele Autoren ein Schlüsselerlebnis für den
Weg in den Widerstand, sondern lediglich eine Art enttäuschende Episode. Ob und wie die Widerstandsgruppe erfolgreich war, ob ihre Aktionen sinnvoll waren ist, so die Autorin, heute zweitrangig,
da ihre Wirkung in Diskussionen, Print- und Filmedien sowie im Internet ungebrochen ist. Dies ist Antwort genug.
Die Mitglieder der weißen Rose waren prinzipiell ganz normale Menschen wie andere auch, aber trotzdem in einem gewissen Sinne bemerkenswerte Einzelfälle. Ihre Aktionen waren sicherlich sehr
mutig. Aber Helden gesteht man zu, mutig etwas zu tun, was andere nie machen würden. Da sie aber eigentlich keine Helden waren, hätten wesentlich mehr Leute den Weg in den Widerstand suchen
müssen. Aber viele wurden stattdessen zum Täter, wobei wir dann wieder am Anfang dieser Rezension stehen ...
Fazit: Dieses Sachbuch öffnet Raum für neue Diskussionen.
Andreas Pickel
© 2018 Andreas Pickel, Harald Kloth