Roman
Berlin ; Ullstein ; 2018 ; 320 Seiten; ISBN 978-3-550-05066-4
„Zwei Brüder, ein Dorf in Sachsen und eine Wut, die immer größer wird“ (so die Rückseite des Buchenbands). Was ranken sich nicht alles für (Verschwörungs-) Theorien über den Osten
Deutschlands, gerade nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018, warum gerade dort der Rechtsextremismus und die Politikverdrossenheit so hoch sind und man Perspektivlosigkeit an allen Ecken und
Enden spürt. Da wo Politiker, Historiker und Soziologen bis auf die üblichen Platituden nicht mehr weiterkommen, da muss man am Besten diejenigen fragen, die dort aufgewachsen sind, die allen
Unkenrufen zum Trotz dort noch wohnen und leben, ihre Umgebung und ihr Umfeld genau und aufmerksam beobachten. Einer davon ist Lukas Rietzschel, dem es mit seinem Debütroman „Mit der Faust in die
Welt schlagen“ in exzellenter Art und Weise gelungen ist, die Vorgänge in seiner
Heimat in Ostdeutschland zu umschreiben, zu beschreiben und zu erklären.
Vielfältige Belastungen verursacht durch die Suche nach Orientierung in einer außen- sowie innenpolitisch immer komplexer und unverständlicher werdenden Welt, technologische Reizüberflutung
(Stichwort: Social Media), berufliche sowie private Unsicherheiten, die sich zu einem hohen Grade in Verbitterung äußern, kennzeichnen viele der abseits der großen pulsierenden Städte wie Leipzig
und Dresden eher dünn besiedelten Landstriche im Osten.
Anhand von zwei Brüdern, Philipp und Tobias, die Rietzschel über 15 Jahre von 2000 bis 2015 in ihrer kindlichen und jugendlichen Entwicklung begleitet, beschreibt der Autor ein Milieu, wie es
treffender nicht sein kann. Beide suchen ihren Status, ihre Position im Freundeskreis, in der Gesellschaft und in ihrem Leben. Philipp, der Ältere und wesentlich gefestigter als sein jüngerer
Bruder, zieht sich im Laufe seiner Entwicklung nach und nach aus den politischen Diskussionen und vor allem öffentlichkeitswirksamen Aktionen in seiner Heimat zurück und wird ein ganz normaler
Bürger. Tobias hingegen, zunehmend rechtsextrem werdend, kämpft mit den Jahren immer vehementer verbal und mit Taten gegen das Fremde, gegen das Befremdliche in seiner Heimat. Dabei spielt für
das Erwachsenwerden die zerbrechende Ehe der Eltern genauso eine Rolle wie der Selbstmord eines Bekannten der Eltern. Wie bei anderen Brüderpaaren auch, wechseln sich Streit mit Solidarität
(„Verbrüderung“) ab, aber je älter sie werden, spürt man vielmehr Gleichgültigkeit oder gar Konkurrenz.
Rietzschel, 1994 geboren, also gerade mal 24 Jahre alt und zu der Generation gehörend die ausschließlich im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen ist, der Autor dabei selbst im Osten von
Sachsen, nutzt eine beeindruckende Sprache, um den Lesern die „kalten Lebensumstände“ von Philipp und Tobias vor Augen zu führen. Er beschreibt so wortgewaltig ein Umfeld sowie Denkprozesse,
welches man selbst in einem Film nicht besser vermitteln könnte. Unmittelbar nach der Wende die Träume, der Versuch, die Träume zu realisieren, Familienglück, Hausbau, doch dann Desillusionierung
Verbitterung, Trennung bis hin zu Resignation. Was bleibt ist die Flucht in Alkohol und Drogen oder eben die Flucht in die westlichen Bundesländer. Dem Autor gelingt es hervorragend Fakten einer
Dokumentation oder eines Sachbuchs in einen Roman zu packen – überdurchschnittlich hoher Rassismus und Rechtsextremismus im Osten verursacht durch Arbeits- und
Perspektivlosigkeit. Geschickt wechselt er den Einbau tagesaktueller Geschehnisse (Irak Krieg, „9/11“, Elbe-Hochwasser, Finanzhilfen für Griechenland) mit Erinnerungen und persönlichen
Erlebnissen an die eigene Kindheit in seinem Erstlingswerk ab.
Rietzschel beschreibt mittels der beiden Protagonisten in einer beindruckenden Sprache, warum Menschen in ihrer eigenen Welt zu Fremden werden oder ihnen ihre eigene Heimat zunehmend befremdlich
vorkommt. Zunächst sind es nur die in der
Gegend lebende sorbische Minderheit, Polen und Türken, Tschechen, welche die Drogen in die Ortschaften bringen oder auch mal die „andersartigen“ Homosexuellen. Dann aber kommen in diese nun
„befremdliche Welt“ andere Fremde, Flüchtlinge, die für die unbefriedigende Situation verantwortlich gemacht werden, obwohl die eigenen Lebensverhältnisse durch die Flüchtlinge weder schlechter
noch besser als vorher werden. Diesem Paradoxon folgend nimmt Rietzschel die Gesten der beiden Jugendlichen, vor allem von Tobias und seinen Freunden, z.B. bei dem jährlichen örtlichen Volksfest,
bei Treffen oder „Rumhängen“ unter extremem Alkoholgenuss, und erklärt an ihnen die sukzessive Zunahme von Aggression, Ärger und Verbitterung. „Verpisst euch, das ist unser Land“ ist ein
vielgerufener Slogan der Jungs, die kein Vertrauen und Respekt mehr in die und vor den örtlichen Ordnungshüter haben und lieber wie eine Art Hilfssheriff selbst für Ordnung sorgen. Sehr
feinfühlig und ohne direkt aktuelle Ereignisse anzusprechen aber auf sie anzuspielen balanciert Rietschzel diesen Zorn und die Empörung auf der einen und Ohnmacht über die miese Stimmungslage auf
der anderen Seite. Insbesondere die Beschreibungen, wenn die aufgestaute Wut in Aktionen und Taten umschlägt, zum Beispiel das Werfen eines blutigen
Schweinekopfes auf ein von muslimischen Flüchtlingen bewohntes Haus, machen das Buch so besonders. Gegen Ende sind sich aber dann selbst die ehemaligen „Kampfgenossen“ fremd, fremd in der eigenen
Umgebung, fremd durch unterschiedliche berufliche sowie private Entwicklungsstränge und fremd durch unterschiedlich gewordene Ansichten. Fremd geworden, ohne dabei die Ursache in den eigentlich
Fremden zu finden ... und schließlich werden sich selbst die Brüder
fremd, haben sich nichts mehr zu sagen – Stille! Stille, wie in vielen Teilen des ausgedünnten Ostens.
Der Roman ist sprachlich eine „Augenweide“ und erzählt in meist kurzen Szenen doch so viel. Zum Beispiel gleich zu Beginn in einem kurzen Gespräch zwischen Tobias‘ und Philipp’s Vater mit dessen
Chef erfährt man viel mehr über die derzeitige Situation im Osten nach der Wende als in langatmigen Filmen oder Büchern. Dies betrifft nicht nur die allgemeine Situation, die marode
Infrastruktur, sowie das Dorfleben, sondern auch die intrafamiliären Abläufe und die damals noch hohe Bedeutung der Großeltern, denen Rietzschel ein große Bühne bietet. Er beschreibt exzellent
die Gegensätze, verbreitet Hoffnungen z.B. als ein neues Autohaus gebaut wird, um im folgenden Satz gleich wieder zu desillusionieren. Die Schnellstraßen wurden gebaut, damit niemand mehr durch
die tristen Ort fahren musste, die Umgehungsstraßen umgingen im wahrsten Sinne des Wortes die Orte und gaben sie somit ihrer Einöde preis.
Fazit: Es sind diese kleinen „Bildsequenzen“, jede für sich eine kleine Geschichte, aber doch dem Handlungsstrang untergeordnet, die das Buch so besonders machen – absolut lesenswert.
Andreas Pickel
© 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth