Rüdiger Barth/Hauke Friederichs: Die Totengräber

Der letzte Winter der Weimarer Republik

Frankfurt am Main ; S. Fischer ; 2018 ; 409 Seiten ; ISBN 978-3-10-397325-9

 

Am 17. November 1932 tritt Franz von Papen als Reichskanzler der Weimarer Republik zurück, 74 Tage später, am 30. Januar 1933, wird Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt und eben jener von Papen verliest als Vize-Kanzler die Ministerliste. Von Papen führte nach Heinrich Brüning (Zentrum) und vor Kurt von Schleicher (parteilos) das mittlere der insgesamt drei der sogenannten "Präsidialkabinette". Bereits davor wechselten seit dem ersten Reichskanzler der Weimarer Republik, Friedrich Ebert (SPD), in „normalen“ Regierungen unzählige Male der Reichskanzler, u.a. bestimmten Gustav Stresemann (DVP), Hermann Müller (Zentrum) oder Wilhelm Marx (Zentrum) mehrmals die Geschicke der instabilen Republik. An Kontinuitäten wie noch zu Zeiten des Kaiserreichs mit einem Bismarck oder auch von Bethmann Hollweg an der Spitze war nicht zu denken. Der weitere Werdegang des Deutschen Reiches nach Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Hitler, der nach dem Tod Hindenburgs auch die Funktion des Reichspräsidenten übernahm, bis zu seinem Untergang im Mai 1945 ist hinlänglich bekannt. Dies soll auch nicht Thema des Buches von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs: Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik sein, sondern die überaus spannenden Wochen voller Intrigen und politischer Macht- und Ränkespiele im Winter 1932/33.

Obwohl das Buch nur knapp über 70 Tage behandelt, ist es trotzdem fast 400 Seiten dick. Dies liegt daran, dass sich die beiden Autoren einer Art Tagebuch-Methode bedienen und so fast chronologisch die Ereignisse beschreiben. Als Vorbild galt ihnen dabei die TV-Serie „House of Cards“. Hauptdarsteller sind natürlich der damals schon greise Reichspräsident Hindenburg, hochdekoriert im und Mythos des Ersten Weltkriegs, Franz von Papen und sein Nachfolger als Reichskanzler Kurt Schleicher, sowie Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Nicht unwichtige Nebenfiguren in dem teils makabren Spiel sind Otto Meissner, Leiter des Büros des Reichspräsidenten und Oskar Hindenburg, der Sohn des Reichspräsidenten.

Neben diesen Protagonisten wird das Geschehen beobachtet und berichtet vor allem aus Sicht des amerikanischen Gewerkschaftsfunktionärs Abraham Plotkin, der nach Berlin gekommen ist, um den Kampf der einfachen Leute für ihre Recht miterleben zu können. Ergänzt wird das alles durch Tagebuchaufzeichnungen anderer Politiker sowie Überschriften der Tageszeitungen. Die beiden Autoren widmen jeden Tag ein eigenes Kapitel und erzählen chronikhaft im Präsens, was die gedankliche Einbindung des Lesers in die Geschehnisse erleichtert – man ist fast live mit dabei, kann sich so in die Gedanken der Akteure reinversetzen, möchte die Geschehnisse mit beeinflussen, möchte den Politikern an den Hebeln der Macht am Liebsten einflüstern, was sie zu tun haben. Das Buch reißt so mit und könnte durch seine Authentizität auch gleich das Drehbuch für einen Film oder ein Theaterstück sein. Eine besondere Rolle in den für Deutschland so schicksalshaften Tagen spielt natürlich das „Militärdenkmal“ Paul von Hindenburg. Bereits 1866 als 18 Jähriger an der Schlacht von Königgrätz beteiligt, spielt nun der 85 Jährige Held der Schlacht von Tannenberg als seit über 7 Jahren agierende Reichkanzler die entscheidende Rolle. Für jedes siebte Kind, egal ob Aristokrat der Arbeiter, so die Autoren, übernimmt er die Patenschaft und unterstreicht so seinen Heldenstatus wie auch Beliebtheitsgrad. Um seine Gunst versuchen alle zu buhlen, sich ins rechte Licht zu stellen und Kontrahenten schlecht zu reden. Dazu zählen auch viele Lobbyisten, selbst die namhaftesten Wirtschaftsführer schreiben an ihn, um sich auch ungeschminkt für Hitler und seine Partei stark zu machen. Das Wort Hindenburgs ist wie ein Befehl! Und so setzt er Schleichers Regierung nach nur 56 Tagen auch ein Ende.

Was dem Buch ohne Frage fehlt ist eine Analyse, eine Interpretation der Autoren. Nicht jeder Leser ist derart fachkundig, dass er zumindest am Ende einer jeden Woche auf einen allgemeinen Blick und eine Einschätzung auf die verworrene Lage und Situation für das Gesamtverständnis verzichten könnte. Man will nicht nur wissen, wie was, sondern warum es genauso passiert ist. Sollte es der Anspruch gewesen sein, die Vorgänge im letzten Winter der Weimarer Republik zu erklären und analytisch aufzuarbeiten, so wird dieser Anspruch dadurch leider verfehlt. Die spannende Frage nach dem „was wäre wenn“, also nach einem alternativen Weg wird ebenso nur kurz thematisiert, dies ist aber auch nicht die Intention der Autoren. Allerdings beruht das Buch auf Tagebuchaufzeichnungen oder späteren Erinnerungen, die, das zeigen ja auch die Autobiographien von ehemaligen Nazi- und Wehrmachtgrößen, nicht immer unbedingt die Wahrheitsfindung unterstützen, sondern eher der Selbstreinigung dienen. Es bleibt insgesamt unklar, welche der Szenen aus welchen Quellen stammen. Auch gibt es gerade über diese schicksalshafte Zeit noch viele dunkle Flecken, über die nur spekuliert werden kann. Diese hätte man auch nennen müssen. Um insgesamt Platz für Analysen einzusparen hätte man, ohne dass man den chronologischen Faden verloren hätte, einige Tage überspringen können, teils kehren gewisse Situationen immer wieder.

Stark ist das Buch in den (Neben-)beschreibungen der Lebensumstände der Zeit gerade in der Advents- und Weihnachtszeit bzw. auch an Silvester/Neujahr. Durch Briefe, Tagebucheinträge, (Klatsch-)Nachrichten, Reklame etc. bekommt man einen Eindruck von blutigen Straßenschlachten sowie der Armut bedingt durch hohe Arbeitslosigkeit. Auch aus Ministerbesprechungen zum Beispiel zu verbilligtem Brot und Milch wird berichtet, um die bereits verfügte Winterhilfe um Kohle und Fleisch zu erweitern. Selbst der Wetterbericht wird beschrieben oder auch die bereits damals offensichtlich hochwichtigen Diskussionen um Ablösesummen im Fußball oder auch deren Professionalisierung. Dazwischen wird mal eben eher belanglos eingefügt, dass die Wehrmacht mit Planspielen Szenarien für einen zukünftigen Bürgerkrieg erarbeitet. Auch die Beschreibung der Charaktere ist exzellent. Hitler wird (noch) als gesichtslos mit fast weiblichem Charme bezeichnet, von dem später durch Kershaw näher untersuchten Hitler Mythos ist, mit Ausnahme in seiner engsten Entourage, anscheinend weit und breit noch nichts zu spüren. Eindrücklich hervorgehoben wird bereits die Redekunst Goebbels, der beispielsweise in mehreren Großkundgebungen den Tod eines Jungen den Juden zuschiebt und als Agitator die Massen in Ekstase versetzt. Stark ist das Buch auch in seiner Sprache und Beschreibungen.

Bereits seit Sebastian Haffner wissen wir, dass Hitler‘s Kür zum Reichkanzler keine Machtergreifung war. Zu diesem Bild tragen die beiden Autoren nachhaltig bei. Geschickt wechseln sie zwischen Fakten zu diesen spannenden schicksalshaften Wochen und subjektiven Eindrücken wie von Abraham Plotkin sowie vor allem ausländischen Schriftstellern und Journalisten. Gerade die Fehleinschätzungen vieler Protagonisten, Hitler und sein Weltbild betreffend sowie vor allem seinem Willen, dieses rigoros in die Tat umzusetzen wird beeindruckend deutlich. Das Buch endet, als der 43jährige Hitler am 30. Januar 1933 gegen halb 12:00 Uhr den Amtseid leistet und auf die Weimarer Verfassung schwört. Das alles kommentiert von Paul von Hindenburg, dem Reichspräsidenten mit den Worten: „… und nun meine Herren, vorwärts mit Gott ...“. Mit seiner Ernennung zum Reichskanzler war sein Werk „Mein Kampf“ das Buch des Tages. Freund oder Feind konnte bereits dort lesen, was auf sie in den nächsten Wochen und Monaten, ja Jahre zukommen würde. Aber nur die wenigsten wollte es glauben. Die Totengräber der Weimarer Republik haben in einer Art illustren Prozession die dahinsiechende Demokratie für lange Zeit zu Grabe getragen. Dies betrifft auch einige der Hauptakteure, Schleicher wurde ermordet, Hindenburg verstarb 1934.

 

Fazit: Stark in den Beschreibungen der Lebensumstände. Was fehlt ist eine Analyse und Interpretation der Autoren.

Andreas Pickel

3/4 Sterne
3/4 von 5

© 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth