Daniel Gerlach: Der Nahe Osten geht nicht unter

Die arabische Welt vor ihrer historischen Chance

Hamburg ; Edition Körber ; 2019 ; 307 Seiten ; ISBN 3-89684-268-4

 

Wenn man heutzutage irgendwelche Artikel zum Nahen Osten und dem arabischen Raum liest, ganz gleich, ob Zeitung, Internet oder Bücher, sind alle Berichte stark negativ, ja teils stereotyp mit einem apokalyptischen Meinungsbild behaftet. Dies beginnt bei der historischen Aufarbeitung der Situation heute (nach dem Motto: … das musste ja so kommen…“) und endet in düsteren Zukunftsprognosen. Da tut es gut, mit „Der Nahe Osten geht nicht unter“ endlich einmal ein Buch in den Händen zu halten, welches die Situation in der ohne Zweifel konfliktgeplagten Region aus teils anderen Blickwinkel betrachtet, den Ländern dort und ihre vielschichtigen, teils vitalen Beziehungen untereinander eine durchweg positive Zukunft attestiert und sehr zweckmäßige Hinweise gibt, die Zukunft noch positiver zu gestalten.

Daniel Gerlach gilt als absoluter Kenner der (noch) fragilen Region. Seine Eindrücke aus unzähligen Reisen in die Länder des Nahen Osten sowie seine zahlreichen Begegnungen mit den Protagonisten vor Ort, teils auch mit hier noch weitestgehend unbekannten „Strippenzieher“ im Hintergrund, aber auch sein Gespür für Land und Leute hat er in einem beeindruckenden Buch zu Papier gebracht. Antrieb für ihn war es, den derzeitigen negativen Diskurs kritisch zu hinterfragen und die Ereignisse sowie die aktuelle Situation realistisch einzuordnen – und das ist ihm zweifellos hervorragend gelungen. Bereits zu Beginn bringt er uns die arabische Renaissancebewegung Nahda näher, weitere bis dato unbekannte Strömungen und Entwicklungen, die unserer westeuropäischen Assoziation „Naher Osten gleich Pulverfass“ widersprechen, folgen in seinem Buch. Der Beginn der teils ziemlich unübersichtliche Situation heute ist für Gerlach zeitlich einzuordnen mit dem Sturz des Schah-Regimes im Iran und die Etablierung einer islamistischen Republik dort, gefolgt von der zunehmenden Inthronisierung autoritärer Präsidenten in der Region wie Hussein im benachbarten Irak. Gerlach spricht also von einem 40-jährigen Krieg und widerspricht damit Autoren, welche lieber Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg von 1618 ziehen möchten.

 

Der Autor sieht dabei zwei „Hebel“ für eine friedvollere Region: Zum einen die Abschaffung des Despotismus und zum anderen die Überwindung des Sektarismus, also „eine von Ressentiments geprägte Geisteshaltung, die sich in einer Überbetonung der ethnischen und religiösen Identität von Einzelnen oder Gruppen innerhalb eines staatlichen Gemeinwesens äußerst“. Sektarismus verdrängt jegliche anderweitige oppositionelle Strömungen aus seinem Einflussbereich, schürt Konflikte und fördert keinen Frieden sondern vertieft vielmehr die Gräben, anstelle sie zu überwinden. Die Araber nutzen hierfür den Begriff „Ta’ifiya“, d.h. man spaltet bewusst Gemeinschaften innerhalb eines Staates, spielt diese unterschiedlichen Strömungen gegeneinander aus und macht sich konfessionelle oder ethnische Ressentiments machtpolitisch zu nutze. Jemand, der die Menschen nur als Sunniten, Schiiten, Drusen, Alawiten oder Christen betrachtet und die eigene Identität dahingehend überbetont, gilt als tai’fi. Und neben der Tatsache einer Art „Stellvertreterkrieg“, in dem vor allem Russland, Iran und die Türkei ihre Interessen durchsetzen wollen, trug und trägt vor allem dieser Sektarismus auch zu einem Großteil zu der derzeitigen Situation in Syrien bei. Die Überwindung des Ta’ifiya gilt als Schlüssel für einen Frieden in der Region! Auf Syrien bezogen, damit die Sunniten, also die Hälfte der Bevölkerung, nicht ein Volk im Exil im eigenen Land wird, liegt es nun an der Kraft der syrischen Bevölkerung, dies zu verhindern. Zu verhindern auch, das Assad einen Staat Syrien rein nach seinen, für Gerlach, „albtraumartigen“ Vorstellungen aufbaut, sondern ein Syrien, welches den Wohlgefallen der Mehrheit der syrischen Bevölkerung findet.

Ein großes Kapitel widmet Gerlach neben Syrien dem Irak, die Eroberung von Teilen des Landes durch den IS, die Rückeroberung durch den Irak sowie Prognosen für die Zukunft. Gerade im Irak wird glaubensübergreifend sehr pragmatisch agiert, Stammeskulturen und Netzwerke aus der Zeit des Widerstandes fördern dies und ermöglichen sogar eine Zusammenarbeit mit den Kurden. Nicht Parteien halten sich Milizen dort, um ihre Politik durchzusetzen, nein, Milizenführer wie Hadi al-Ameri, der Held der Volksmobilisierung gegen den IS, machen nun (Partei-)Politik. Obwohl es diesen überwiegend nur um den Erhalt ihrer eigenen Art von „Hausmacht“ geht, also wenig Drang nach Erneuerung besteht, beruhigt sich die Situation dort zunehmend. Unabhängig davon, wer das Land gerade mal führt, welches Regime aufsteigt oder auch fällt, Leuten wie Ameri, Nuri al-Maliki oder auch Abu Mahdi al-Muhandis bleiben machtpolitisch eine Konstante. Da die sich aber nicht immer „grün“ sind, könnten diese „Konstanten“ doch wieder zu Bürgerkrieg und Förderung von Extremismus führen. Nun liegt es an dem neugewählten Präsidenten Adil `Abd al-Mahdi das Land zusammen zu halten und gute Beziehungen zu seinen Nachbarn zu halten, um ein Auseinanderfallen zu verhindern. Aber letztendlich zeigt sich auch im Irak, der größte Feind des Staates kommt von innen. Den zählt es außen vor zu lassen und seine eigenen Machtverhältnisse zu konsolidieren.

Auch wenn der IS größtenteils besiegt ist, Gerlach rät sich noch länger und intensiv mit den Ursachen und Verlauf dieser Herrschaftsform zu beschäftigen. Viele Staaten sind immer noch zu fragil, so dass ein erneutes Herausbilden einer vergleichbaren Herrschaft nicht auszuschließen ist. Nur wenn die Bürger fühlen, dass der Staat in der Lage ist, sie zu beschützen und ihre ökonomischen Lebengrundlagen zu erhalten, kann ein Abdriften zu derart extremen Gruppierungen wie den IS verhindert werden.

Der Islam, so Gerlach ist heutzutage vielfältiger als noch vor einigen Jahren. Aber, dies muss nicht automatisch so weitergehen, der Islam noch toleranter werden. In beiden Strömungen des Islams, also sowohl unter Sunniten wie Schiiten gibt es genügend Prediger und Imame, die sich dagegen sperren. Allerdings ist diese auch durch europäische Islamisten geförderte Diversifizierung sicherlich ein Schlüssel für ein friedvolleres grenzüberschreitendes Miteinander. Friedvoller wäre der Nahe Osten sicherlich auch, wenn man die Staaten ihre Angelegenheiten alleine regeln lassen würde, ihn also quasi unter sich belassen würde. Aber besonders Amerika, das von einer Middle East Security Alliance der arabischen Staaten träumt, Russland, Iran, die Türkei glauben, dass gerade ihre Einmischung einen friedvollen Nahen Osten fördert. Aber stattdessen nähren diese nur die schwellenden Konflikte und hinterlassen oftmals verbrannte Erde, die andere wieder mühevoll aufbauen müssen. Das Gute, so Gerlach, es gibt in der Region kaum Konflikte zwischen den Staaten. Die meisten Konflikte sind Bürgerkriege, blutige Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. So viele Opfer auch diese fordern, zwischenstaatliche Kriege wären weit noch Dramatischer, vielleicht sogar für den gesamten Weltfrieden.

Hoffnung setzt Gerlach auf die Zivilgesellschaft als Gegenpol zu autoritären Führungspersönlichkeiten und Staaten. Allerdings kann sich diese nur adäquat entwickeln und fruchtbar auswirken, wenn der autoritäre Staat nicht zu stark, zu unterdrückend wirken kann. Dann werden jegliche Versuche der Zivilgesellschaft auf ein friedvolles Miteinander und Fortschritt bereits im Keim erstickt werden. Wie der Arabische Frühling zeigt, besonders wirkungsvoll ist es, wenn sich verschiedene Gruppierungen gegen die Machthaber zusammentun: Organisationen, die in Koordination mit dem Ausland ihre Ziele und Bedürfnisse kommunizieren, starke wirtschaftliche Interessengruppen und nicht zuletzt vernachlässigte Bevölkerungsgruppen (meist in der Mehrzahl), die nach dem Motto „alles oder nichts“ ein hohes Auflehnungspotential zeigen. Wenn es dem Staat oder staatlichen Institutionen aber gelingt, ein Lager auf seine Seite zu ziehen und so das „Bündnis“ zu brechen wird es schwierig für reformatorische Prozesse. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen sieht Gerlach diese gesellschaftlichen Kräfte als die einzigen an, die realistisch betrachtet den vier Hauptursachen für die Konflikte entgegenwirken können: Despotismus, Sektarismus, religiös begründeter beschönigter Extremismus und ökonomische Perspektivlosigkeit. Der Staat, so der Islam-Kenner, kann diese Herausforderungen nur im Zusammenwirken mit der Zivilgesellschaft lösen.

Eine gemeinsame arabische Sprache unter rund 450 Millionen Einwohnern, über 50% der Bevölkerung unter 25 Jahre, bieten einen immenses Potential für wirtschaftliche Entwicklung. Dies betrifft das Potential an Arbeitskräften gleichermaßen wie das Potential an innovativen produktiven Ideen oder für die Optimierung von wirtschaftlichen Prozessen. Abbau von Zollschranken und die Etablierung einheitlicher Standards wäre ein erster Anfang, innerhalb der Staaten ist ein Zugang zu Kommunikation, Dienstleistungen und schließlich Kapital der Schlüssel zum Erfolg. Dies gilt für alle Bevölkerungsgruppen, Frauen sind mit ihren ganz eigenen Schlüsselqualifikationen darin zwingend nicht auszuschließen.

Wirtschaftliche Prosperität und ein friedvolles Miteinander reduzieren dann auch erheblich den Drang zu Migration in den Westen. Deshalb sollte gerade der Westen nicht einseitig autoritäre Staaten und Führer sowie Gruppierungen unterstützen, die auch nur egoistisch in die eigene Tasche wirtschaften und handeln sowie andere Bevölkerungsgruppen unterdrücken, sondern dort, wo mit einer gewissen Ausgewogenheit zwischen allen Bevölkerungsgruppen gehandelt und regiert wird. Eine Art Marschall-Plan wäre vielleicht sogar hilfreich. Dies hat dann auch positive Auswirkungen auf den Westen selbst. Gerlach warnt in diesem Zusammenhang davor, siehe auch das Beispiel Afghanistan, den arabischen Staaten die über Jahrhunderte entwickelte Form der europäischen Demokratie aufzuzwingen. Dies würde genau das Gegenteil bewirken, Jeder der Staaten im Nahen Osten hat seine eigene Form der Demokratie zu finden, die den Eigenheiten und Ausprägungen des jeweiligen Landes am Besten entspricht.

Die vier Geißeln der vergangenen und derzeitigen Konflikte im Nahen Osten, Despotismus, Sektarismus, religiös verbrämter Extremismus und ökonomische Perspektivlosigkeit können, so Gerlach, nur von der Zivilgesellschaft gelöst werden. Die derzeitigen Staatsführer solidarisieren mindestens mit einer dieser vier Ursachen, um sich selbst weiter legitimieren zu können. Wenn sich die Staaten von diesen „Geißeln“ befreien, machen sie sich selbst obsolet. Das werden sie (noch) zu verhindern wissen, aber wer weiß, wie für lange noch. Vielleicht auch, dass die Bewohner der arabischen Welt dieses beeindruckende Buch lesen. Es klingt jedenfalls nicht utopisch, was Gerlach empfiehlt, sondern mit der notwendigen Geduld sehr realistisch. Diese Zeit müssen wir der Gegend dort geben, um sich selbst zu finden, sich selbst Zukunft und Perspektive zu geben. Gerlach bricht mit seinem Buch alle stereotypen Diskussionen, sieht wie der deutsche Politik- und Islamwissenschaftler Michale Lüders noch nicht den „Armageddon im Orient“, sondern gibt für eine positive Entwicklung genug fruchtbaren Samen.

 

Fazit: Gerlach gelingt es hervorragend, anhand neuer Blickwinkel auf die Situationsbeschreibung der arabischen Welt, das in jeglicher Hinsicht hohe Potential der Region darzustellen, erklärt deren Widersprüchlichkeiten, soziale und religiöse Vielfalt, Hemmnisse und vor allem ihre Chancen. Das „pessoptimistische“ Buch ist absolut lesenswert.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth