Europa 1950 bis heute
München ; dtv ; 2019 ; 828 Seiten ; ISBN 978-3-421-04734-2
Knapp drei Jahre nach seinem Bestseller "Höllensturz" veröffentlichte der renommierte britische Historiker Ian Kershaw mit "Achterbahn" nun den zweiten, ebenso sehr beeindruckenden Teil seines Blicks auf die Entwicklung Europas im 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts.
Kershaw steigt zeitlich ein, als die größten Wunden des Krieges geleckt waren und die Ergebnisse der diversen Konferenzen der vier großen Siegermächte implementiert wurden. Nach einer langen Phase nicht nur der Konsolidierung, auch politisch und gesellschaftlich, war es vor allem die wirtschaftliche Prosperität, die Ruhe auf dem Kontinent ausstrahlte. Parallel dazu entwickelten sich u.a. auch durch die Westbindung Westdeutschlands nach und nach zwei festgelegte Blöcke in Europa, die sich strikt voneinander abgrenzten. Der kalte Krieg und die Angst vor einem zerstörerischen Atomkrieg verfestigte zwar den Zusammenhalt innerhalb der beiden Blöcke, verursachte andererseits aber als „Preis“ die endgültige und über Jahrzehnte verfestigte Spaltung Europas. In Osteuropa bildete sich die von Kershaw als „Klammer“ bezeichnete Bindung der osteuropäischen Staaten an die Sowjetunion.
Mitverantwortlich für diese Spaltung waren für Kershaw aus westlicher Sicht auch die Konsolidierung der pluralistischen liberalen Demokratien, die zwar unterschiedlich sein konnten, aber
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und persönliche Freiheit brachten. Zum anderen führte der Niedergang der Kolonialreiche dazu, dass alle Staaten Westeuropas in etwa den gleichen Status
erlangten, also Großbritannien und Frankreich, trotz weiterhin einer der 5 Vetomächte im UN Sicherheitsrat, ihren Status als Großmacht verloren. Die mehr oder weniger friedvolle Ablösung der
Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien und die dortige Etablierung von Demokratien vervollständigte den Triumph der westeuropäischen Art von pluralistischen und demokratischen
Regierungssystemen. Sehr detailliert geht er in jedem der größeren europäischen Staaten auch auf das innenpolitische Gerangel ein, bis sich meist ein charismatischer Kopf (z.B. Adenauer in
Westdeutschland) für längere Zeit durchsetzte und das Land „in ruhigere Fahrwasser“ steuerte“. Sehr detailliert widmet er sich dabei auch den außenpolitischen Implikationen insbesondere von
Großbritannien und Frankreich im Zuge der zunehmenden Entkolonialisierung auf die Innenpolitik. Der Glanz eines De Gaulle, als den Retter Frankreichs verschimmerte deswegen, für Kershaw war er
das Gesicht der Vergangenheit, nicht der Zukunft.
Im Ostern dagegen zog die Sowjetunion ihre Klammer um die vereinnahmten Länder immer enger. Kurzzeitige Bestrebungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, den Kommunismus demokratischer und
liberaler zu gestalten, wurden niedergeschlagen. Freiheit und Demokratie waren mit einem kommunistischen Staat nicht vereinbar. Für Kershaw ging dies einher mit einem Verlust der ursprünglichen
sozialistischen und revolutionären Idee eines Lenins. Die Ostblockstaaten verkümmerten stattdessen zu konservativen autoritären Länder, die keinerlei revolutionäre Energie und utopischen Anspruch
mehr besaßen. Nichtsdestotrotz war aber auch dort, Wirtschaftsexperten sprechen von einem „silbernen Zeitalter“, begünstigt durch eine Verdoppelung der Exporte, ein erheblicher Anstieg der
Lebensverhältnisse spürbar, mit dem, trotz eingeschränkter Wahlmöglichkeit z.B. des Arbeitsplatzes, jeder überwiegend zufrieden war.
Im Vergleich zu den Jahren Anfang des Jahrhunderts herrschte also allerorts relative Ruhe. Diese Phase wurde jäh unterbrochen, Kershaw bezeichnet dies als epochalen Wendepunkt, mit dem ersten
Erdölpreisschock 1973 mit der Folge von zunehmender Arbeitslosigkeit und abnehmendem Wohlstand quer durch Europa. Er prägte nicht nur die Wirtschaft, sondern hinterließ tiefe Spuren auch in der
Politik und Gesellschaft. Nun sahen sich die Regierungen gezwungen, massiv in die Wirtschaft einzugreifen und regulierten alles, was damit zusammenhing, z.B. die Arbeitsmärkte, oder beschlossen
Konjunkturprogramme zur Stützung diverser Wirtschaftszweige. Dies hatte einen Umbruch in unserer Industriegesellschaft an sich sowie im sozialen Gefüge unserer Gesellschaften zur Folge.
Aber auch außen- und sicherheitspolitisch war bald Ende der Ruhe. Trotz oder gerade wegen der atomaren Bedrohung blieb Europa bis Anfang der 1990er Jahre von Kriegen verschont. Nach der
Demokratisierungswelle auch durch alle osteuropäischen Staaten schien man ruhigen und entspannten Zeiten entgegenzusteuern. Doch weit gefehlt. Erst die an Grausamkeit nicht zu übertreffenden
Balkankriege, welche die Hoffnung, dass der Kontinent auf ewig zu Einigkeit und Frieden gedeihen würde, zur Illusion machte und schließlich “9/11“ mit all seinen Folgen auch für Europa. Für
Kershaw war nicht das Jahr 2000, sondern der 11. September 2001 der Beginn eines neuen Jahrhunderts.
Ian Kershaw gelingt es exzellent thematisch nahtlos an seinen Bestseller „Höllensturz anzuknüpfen und Europas Weg zunächst in die Interdependenzen der beiden „kalt“ gegenüberstehenden
Supermächten USA und UdSSR darzustellen. Überall, so der Autor, mussten die Menschen mit der Furcht vor der Bombe leben, mit der latenten Gefahr, dem Gedanken der gegenseitigen vollständigen
Zerstörung. Aber ebenso hervorragend stellt er das Loslösen des immer stärker und selbstbewusster auftretenden Europas aus diesen Fesseln dar. Selbst den Wandel in Musik (z.B. Rock’n Roll), Kunst
und Literatur, Fernsehen und Radio sowie Mode und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und das Leben der Menschen widmet er sich.
Viel Raum räumt er dabei auch dem insbesondere seit den 80er Jahren wieder erheblich ansteigenden Interesse an dem Thema der Vergangenheitsbewältigung ein, als die Gesellschaften sich endgültig
(zumindest emotional) von der Schuld der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs lösten. Kershaw fokussiert sich auf Geschehnisse, Prozesse, Entwicklungen und deren Einfluss auf die Bevölkerung, die
Bürger, weniger auf die Protagonisten. Einzig Gorbatschow räumt er ausreichend Platz ein, sieht er in ihm doch DIE entscheidende Figur für das Wideraufleben der „Macht des Volkes“ und der
Beendigung des Kalten Krieges. Zwar gab wegen des gegenseitigen Wettrüstens die Sowjetunion über 15% ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aus, aber dies hätte in Verbindung mit einer
schwächelnden Wirtschaft nicht zum Zusammenbruch des Systems geführt. Für Kershaw waren es vielmehr „Perestroika“ (Umgestaltung … des politischen und wirtschaftlichen Systems) und „Glasnost“
(Transparenz und Offenheit), welche die Wende brachten. Gerade durch „Glasnost“ bedrohte die Peripherie das Zentrum so, dass das System von außen nach innen erodierte und dann seine Zeit
brauchte, um sich wieder zu konsolidieren. Eigentlich dann erst wieder in der ersten Ära Putin als russischer Staatspräsident.
Eines der besten Kapitel des Buches ist über den Zusammenbruch des Warschauer Paktes und das Entstehen einer europäischen Ordnung, wie wir sie heute kennen. Vor 15 oder 16 Jahren wäre das Buch
mit einer Eloge auf den Westen geendet, der die osteuropäischen Staaten zu Wohlstand für alle aus den Fängen des „bösen „russischen Bären“ befreit hat. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass
alles viel komplizierter und noch komplexer wurde als gedacht und die neuen Gefahren, seien es Bürgerkriege, Terrorismus, Cyberkriminalität, ungelenkte Finanzströme, Globalisierung teils noch
größere Herausforderungen aufwerfen. Das macht es für Kershaw auch so schwierig, das eine oder andere zu interpretieren und vorherzusehen. Insgesamt sieht er die Zukunft eher skeptisch als
optimistisch, dies wegen des Mangels an Solidarität und Interesse an einer noch mehr vertieften Zusammenarbeit in Europa, nationalistisch geprägte Außenpolitik und mangels gemeinsamer
Anstrengungen gegen den Klimawandel.
Nichtsdestotrotz, auch bis zum großen Umbruch gegen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre war auch die europäische Geschichte geprägt von auf und ab, einem geradlinigen Weg und Kurven -
eine Achterbahnfahrt eben. Zu Recht kritisiert Kershaw auch die herablassende Behandlung Russlands durch den Westen trotz der ganzen sowjetischen Zugeständnisse im Zuge der Wiedervereinigung
Deutschlands sowie der Unabhängigkeitsbestrebungen der ehemaligen Sowjetrepubliken. Dieses fehlende Gefühl auch für Sentimentalitäten machte sich dann letztendlich Putin zunutze, der hervorragend
auf diesem Klavier zu spiele wusste und weiß. Große Kritik übt Kershaw auch im Umgang des Westens mit der Arabischen Welt und der Politik im Nahen Osten. Gerade der Irak-Krieg ist für ihn die
Hauptursache für den islamischen Terrorismus, den wir vielerorts grausam spüren mussten und leider auch weiter spüren werden. Er kam nicht einfach zu uns, sondern wir haben viel dazu beigetragen,
ihn quasi zu uns geholt.
Gerade weil das Buch nicht chronologisch, sondern thematisch aufgebaut ist, Erzähl- mit analytischem Stil sich abwechseln, spannt es einen vollständigen Bogen um die trotz allgemeiner Bekenntnis zur EU von unterschiedlichen nationalen Interessen getriebenen Ländern Europas. Kershaw selbst räumt in seinem Vorwort ein, damit “dem Drama und häufig die Ungewissheit der sich entfaltenden Geschichte zu folgen“ und zum besseren Verständnis und um sich besser in die Situation der Menschen und Akteure der jeweiligen Zeit versetzen zu können, baut er geschickt zeitgenössische Ansichten mit ein.
Kershaw spart auch nicht mit Kritik und stellt so die diversen Rückschritte zu einem wirklich in allen Domänen vereinigten Europas dar. Diese Wellen, ja, teils Wogen kann keiner so gut und verständlich verknüpfen wie er. Gerade England bekommt seine Kritik zu spüren. Man ist immer noch in zu vielen wesentlichen Themen zerstritten, um gerade in Konfliktsituationen wirklich mit einer Stimme zu reden und damit noch mehr Stärke zu symbolisieren. Das ist eigentlich die Hauptempfehlung Kershaws an Europa, in möglichst vielen Bereichen Konsens zu finden und gemeinschaftlich stark aufzutreten. Aber auch dann, für Kershaw ist die jetzige Zeit der Unsicherheit unauflöslich mit der sich immer mehr vertiefenden Globalisierung verbunden und den Weg dorthin beschreibt er eindrucksvoll.
Zusammenfassend, nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Europa fast 30 Jahre Zeit sich wirtschaftlich, sozial und politisch nachhaltig zu konsolidieren und sich gegen neue Krisen zu wappnen. In Anlehnung an seine „Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg“, sieht Kershaw dann aber auch vier Wendepunkte in der europäischen Geschichte seit 1950: Die Erdöl- und Finanzkrisen von 1973 und 2008 sowie außenpolitisch betrachtet den Fall der Mauer und „9/11“. Die Zeit der Ruhe und Konsolidierung ist also lange passé, Krisenmanagement in allen Bereichen überwiegt wieder mal. Kershaws Buch ist keine Glaskugel, um damit in die Zukunft zu schauen, aber der Rückblick, warum vieles so gekommen ist, wie wir es heute erleben ist, ist absolut lesenswert und sollte ein „muss“ in den Oberstufen unseren Schulen sein.
Fazit: Lesenswerter und beeindruckender Blick auf Europa.
Andreas Pickel
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© 2019 Andreas Pickel, Harald Kloth