Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944
Berlin ; Lukas Verlag ; 2018 ; 707 Seiten ; ISBN 978-3-86732-303-1
Am 20. Juli 1944 scheiterte der Versuch Claus Schenk Graf von Stauffenbergs, Hitler zu töten, damit seinem Terrorregime ein Ende zu setzen und eine neue, demokratische Regierung zu etablieren. In der Folge werden durch die Sicherheitsbehörden der nationalsozialistischen Regierung über 200 Mitverschwörer und Widerstandskämpfer ermordet. Die zeitlichen Abläufe sowie ihre Konsequenzen für die handelnden Akteure und ihrer Mitwisser sind in den letzten Jahrzehnten hinreichend und wissenschaftlich unbestritten dargelegt worden.
Letztes Jahr erschienen nun zum 75. Jahrestag einige neue Bücher, insbesondere zu den Motiven des „Attentäters“. Herauszuheben sind insbesondere die Biografie von Ulrich Schlie: Claus
Schenk Graf von Stauffenberg sowie ein kleines, sehr interessant zu lesendes Buch der Enkelin des Grafen Stauffenberg Sophie von Bechtolsheim: Stauffenberg - Mein Großvater war kein Attentäter. Das monumentalste und sehr akribisch recherchierte Buch zu
diesem Thema veröffentlichte aber bereits 2018 Linda von Keyserlingk-Rehbein, die mit der provozierenden Frage Nur eine »ganz kleine Clique«? die (offiziellen) Darstellungen des
nationalsozialistischen Regimes widerlegen möchte, dass die Attentäter des 20. Juli nur aus einer ganz kleinen unbedeutenden Gruppierung bestanden.
Linda von Keyserlingk-Rehbein validiert ihre These mittels der bisher von Historikern eher weniger genutzten Methode der Netzwerkanalyse. Dabei definiert sie ein Netzwerk als eine „abgegrenzte
Menge von Akteuren und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden Verbindungen“. Diese Verbindungen können dann an ihren jeweiligen Enden wiederum weitere kleinere Netzwerke bilden. In ihren
Betrachtungen steht also nicht das Individuum, in dem Fall wie bei vielen Autoren Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Mittelpunkt, sondern die Interrelationen, die Interdependenzen oder eben
andersherum auch die bewusst nicht vorhandenen Verbindungen zwischen den Akteuren im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Autorin verfolgt diese Verästelungen bis ins Kleinste. Ihren Recherchen zur
Folge waren die Attentäter nicht in einem festen Netzwerk miteinander verbunden, in ein Netzwerk mit regelmäßigen Treffen, in dem jeder von dem anderen wusste und alle sich kannten. Nein, das
wäre aufgrund der umfassenden Bespitzelungspraxis der Gestapo viel zu riskant gewesen. Deshalb, so die Autorin war es vielmehr ein „loses Netzwerk“, in dem jeder seine bestimmte limitierte Rolle
hatte. Jeder wusste nur so viel, wie nötig war, um seine festgelegte Aufgabe und Funktion erfüllen zu können, aber auch nur so wenig, um sich und andere nicht zu gefährden. Diese Art der
Kooperation und Koordination verhinderte nach dem 20. Juli die Ermordung weiterer Beteiligter. Charakteristisch war auch die Heterogenität der Widerständler, so dass man diese auch nicht an ihrem
sozialen Stand (z.B. Adel), ihrer Schulbildung, Konfession, Alter, Wohn- oder Geburtsort festmachen konnte. Auch wenn dies alles die Aufklärung erschwerte, ist es bis heute dennoch beeindruckend,
ja fast unerklärlich, dass all die Attentats- und Umsturzpläne bis zum 20. Juli 1944 weitestgehend geheim gehalten werden konnten.
Für die Erstellung des Netzwerks führt die Autorin Queruntersuchungen durch zwischen den Ermittlungsakten und Gerichtsaufzeichnungen sowie den Nachlässen bekannter Widerständler wie die Briefe
von Helmuth James Graf von Moltke, der Kopf des Kreisauer Kreises, an seine Frau sowie die Tagebücher des Diplomaten Ulrich von Hassell oder auch des Reserveoffiziers Hermann Kaiser. Unmengen an
Fußnoten, die teils den eigentlichen Seitentext an Länge übertreffen, sowie 180 Seiten Anhang unterstreichen nachhaltig den wissenschaftlichen Anspruch des Buches sowie den Gehalt ihrer Aussagen.
In Verbindung mit bis ins kleinste verästelte visualisierte Netzwerkdarstellungen im Buch (wer also mit wem warum verbunden oder eben nicht verbunden war), die man so in einem zeitgeschichtlichen
Buch auch noch nicht gesehen hat, weist sie erstens nach, dass es sich eben nicht nur um eine kleine und vor allem rein militärische Gruppe von Attentätern handelte, auch wenn die Gruppe erst mit
Kriegsbeginn zunehmend größer wurde, und zweitens dass die Verfolger davon Kenntnis oder zumindest Vermutungen hatten, aber diese Erkenntnisse nicht veröffentlichten. Die Anzahl von ca. 400
Ermittlern lässt ebenso darauf schließen, dass die Gestapo mehr wusste, als sie preisgab. Laut Autorin waren den Vermittlern insgesamt 132 von rund 200 aktiv an den Umsturzpläne Beteiligten sowie
650 Kontakte bekannt. Also alles andere als nur eine „kleine Clique“. Mit ihrer Form der Illustrierung des Netzwerks bestätigt die Autorin ebenso die vorherrschende Vermutung, dass gerade die
Reserveoffiziere als Scharnier zwischen den zivilen und militärischen Akteuren der Umsturzpläne agierten.
Ähnlich wie Sophie von Bechtolsheim, der Enkelin von Graf von Stauffenberg, kritisiert sie mit ihrer Netzwerkanalyse auch die aus ihrer Sicht zu starke Fokussierung auf Stauffenberg und die
Vernachlässigung der ebenso heroischen Taten und Handlungen der anderen Widerständler. Bechtholsheim bezeichnet dies sogar als „geschichtsverfälschend“, dieses Netzwerk des Widerstandes, z.B. den
Kreisauer Kreis, unberücksichtigt zu lassen und ihren Großvater nicht als Teil dieses Netzwerks zu betrachten. Für alle Akteure des Netzwerks ging es prinzipiell nicht um das Attentat an sich,
sondern der feste Wille, das Terrorregime zu beseitigen, einen demokratischen Rechtsstaat zu etablieren und eine Friedensordnung unter den Nationen zu verhandeln. Für alle war es eine persönliche
Verantwortung, Unrecht zu beseitigen und Recht (mit einem Reichskanzler Julius Leber) wieder zu etablieren. Dies führte vermutlich auch zur völligen Überraschung unter den Ermittlern zu der
Erkenntnis, dass quasi unbemerkt nicht nur ein Attentat auf den Führer geplant, sondern ein ganzer Staatsstreich vorbereit wurde.
Zusammenfassend: Linda von Keyserlingk-Rehbein gelingt die beste Gesamtdarstellung, die es zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime gibt. Das Buch ist mit seinem wissenschaftlichen
Anspruch (und damit der immens hohen Anzahl an Anmerkungen) nicht immer leicht zu lesen, aber hochinteressant in all seinen Belegen und Argumentationslinien. Tief in allen Quellen vergraben und
Querverbindungen herstellend, beschreibt sie, was die Verfolgungsschergen Hitlers herausbekamen, wussten oder eben nicht wussten und was sie davon öffentlich machten bzw. dem Ansehen des Regimes
willens für sich behielten. Während die meisten Bücher zum Widerstand und 20. Juli 1944 sich auf Einzelpersonen und deren Motive konzentrieren, stellt die Historikerin hingegen die Beziehungen
zwischen den Akteuren in den Fokus. Bis zur eigentlichen Tat waren die sonst so übervorsichtigen Sicherheitsapparate Hitlers absolut blind und unwissend für die Umsturzpläne. Um diese
Vulnerabilität seines Überwachungsstaates zu kaschieren sprach der Führer selbst noch in der Nacht des Attentats von „einer ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich
verbrecherisch dummer Offiziere.“ Dies wurde über all die damals gängigen Medien wie Radio, Zeitungen, Wochenschau im Kino großflächig propagandistisch verbreitet. Für den Nachweis, dass es sich
aber stattdessen um einen größeren Kreis militärischer und ziviler Widerständler und Widerstandsgruppen handelte und der Führer dies wissen musste, dafür
gebietet Linda von Keyserlingk-Rehbein unser Dank.
Fazit: Die beste Gesamtdarstellung, die es zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime gibt. Hochinteressant.
Andreas Pickel
© 2020 Andreas Pickel, Harald Kloth