Kristina Spohr: Wendezeit

Die Neuordnung der Welt nach 1989

München ; DVA ; 2019 ; 976 Seiten ; ISBN 3-421-04835-5

 

Als Kuwait nach der amerikanisch geführten militärischen Operation „Desert Storm“ von Husseins irakischen Truppen befreit war, trat am 6. März 1991 der 41. US-Präsident, George H.W. Bush, vor den amerikanischen Kongress und beschwor eine neue Weltordnung, " … eine Welt, in der die Vereinten Nationen, befreit vom Patt des Kalten Krieges, die historische Vision ihrer Gründerväter verwirklichen werden; eine Welt, in der Freiheit und Menschenwürde ihren Platz in allen Ländern finden … " Grundlage für diese markanten Worte waren die Geschehnisse weniger als zwei Jahre davor in China, der Sowjetunion sowie in Mittel- und Osteuropa. Über 30 Jahre her, sind jene, die Weltpolitik komplett veränderten Vorgänge, mittlerweile Historie, aber aufgrund ihrer Nachwirkungen bis in die heutige Zeit für das Gesamtverständnis von aktueller Außen- und Sicherheitspolitik aber auch Wirtschaftspolitik relevanter denn je. Viele Probleme, die damals durch das Aufbrechen der überwiegend bipolaren Welt (China war noch nicht der globale Player wie heute) entstanden sind, beschäftigen uns noch heute. Diese Ursachen geht Kristina Spohr in ihrem Buch „Wendezeit“ in bemerkenswerter Detailtiefe und –genauigkeit auf den Grund. Und um es Vorwegzunehmen, ein absolut großartiges Buch und ebenso in seiner Quellenanalyse über die Zeit 1989 bis 1992 einzigartig wertvoll.

Spohr steigt geografisch nicht ein, wie man es vielleicht erwarten möchte, mit den Demokratisierungsbewegungen in Mittel- und Osteuropa, sondern weit entfernt in China (Bush führte übrigens seine erste Auslandsreise auch nach China und nicht wie traditionell üblich nach Europa). Dies nicht ohne Grund: Zwar waren der Ausgangspunkt für den gesamten Transformationsprozess Michail Gorbatschows Politik von „Perestroika“ (Umgestaltung … des politischen und wirtschaftlichen Systems) und „Glasnost“ (Transparenz und Offenheit), aber eingerahmt von Geschehnissen außerhalb Europas, besonders der brutalen Niederschlagung friedvoller Demonstrationen auf dem Tiananmen-Platz in Peking am 4. Juni 1989. Gorbatschow war aber dann DIE entscheidende Figur für das Wiederaufleben der „Macht des Volkes“ in Osteuropa und der Entfernung des Eisernen Vorhangs. In der Folge erwachten die Ostblockstaaten, die lange Zeit keinerlei revolutionäre Energie sowie utopische Ansprüche mehr besaßen und zu konservativen autoritären Ländern verkümmerten, aus ihrem von der Sowjetunion streng überwachten „Dornröschenschlaf“ und stießen die friedvolle Revolution nach und nach mit an. Zuletzt fiel die Mauer mit dem Anschluss der DDR an die BRD. Ohne den Einfluss der Bevölkerung (vor allem in Polen und der ehemaligen DDR) nicht entsprechend zu würdigen, lag es vor allem an den Protagonisten dieser Zeit, dass die Revolutionen so friedvoll verliefen. Dies waren allen voran George H.W. Bush und Michail Gorbatschow sowie, neben der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher und François Mitterand, insbesondere der stets besonnen und umsichtig agierenden „Impressario der deutschen Wiedervereinigung“, Helmut Kohl. Diese kleine Gruppe Regierungschefs und ihre engsten Berater steuerten die Handlungen, die seit Ende der 40er Jahre mehr oder weniger fest manifestierten beiden Blöcke in Europa wurden in kürzester Zeit ruhig zu Grabe getragen. Waren also in der bisherigen europäischen Geschichte Grenz- und Gebietsverschiebungen die Konsequenz von Kriegen, so war dies nun die Folge von friedvollen aber deutlichen Willensbekundung der Völker gleichermaßen wie das bedachte Handeln der Staatsführer. Einzig die Unabhängigkeit der Balkanstaaten wurde in einem jahrlangen und dafür umso grausameren Krieg erkämpft.

Spohr nutzt für ihre Analysen einen immens hohen Fundus an Literatur, archivierten Quellen in Ost, Fernost und West, Zeitzeugeninterviews, Gesprächsprotokolle, Berichte der Geheimdienste und Biografien der Protagonisten, die sie nicht einfach zitiert, sondern quervergleicht und damit validiert. Treffen und Vorgänge werden auf ca. 800 Seiten so detailgetreu wiedergegeben, dass man meint, bei den vielen 4-Augen-Gesprächen mit dabei zu sein. Das Buch ist packend und spannend zugleich und wüsste man nicht den Ausgang der Vorgänge, würde man in Versuchung geraten, mitzuraten. Ebenso ungewöhnlich für ein derartiges Buch, Spohr widmet ein eigenes Kapitel dem „pazifischen Jahrhundert“. Die Entwicklungen vor allem in China, aber auch in Japan und den Tigerstaaten wie Singapur und Südkorea haben ebenso ihren Ursprung in dieser Zeit und gerade im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik gravierendere Auswirkungen auf die Zukunft Europas, als jegliche Vorgänge in Europa selbst.

Gerade weil das Buch nicht chronologisch, sondern thematisch aufgebaut ist und trotzdem die unterschiedlichen Regionen und Ereignisse in den Kapiteln verknüpft werden, spannt es einen allumfassenden und tiefgründigen Bogen um alle Facetten dieser Zeit. Dies erfordert einige Aufmerksamkeit des Lesers, aber so wird deutlich, wie die Ereignisse in Europa, Amerika und Asien zusammenhängen. Einerseits am 4. Juni 1989 die blutige Niederschlagung der Demonstrationen in Peking, anderseits gewann am gleichen Tage in Polen die Oppositionsbewegung Solidarnosc, quasi als Eisbrecher des Kalten Krieges, die Wahlen gegen die regierenden Kommunisten – Geschichte der Kugeln versus Geschichte der Stimmzettel. Das Newtonsche Gesetz mit dem Prinzip von Actio und Reactio wurde selten besser dargelegt.

Natürlich ist der Schwerpunkt eines derartigen Buches die deutsche Wiedervereinigung. Am 7. Oktober 1989 feierte die SED noch den 40. Gründungstag der DDR (im Zuge dessen entstand übrigens der berühmte Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben), am 9. November bereits fiel die Mauer und nur rund 11 Monate später war die deutsche Einheit vollendet. Setzte also in der DDR der Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus viel später ein als in Polen oder Ungarn, so entwickelte er sich dort dann deutlich schneller. Wenn man all die (Zeitzeugen-)Berichte liest, eigentlich unvorstellbar. Selbst ein halbes Jahr vorher sprachen viele der unmittelbar betroffenen Politiker noch von Jahren … das es doch so schnell dazu kam, ist sicherlich dem unermüdlichen aber doch stets besonnenen Einsatz von Helmut Kohl zu verdanken, der sehr geschickt die Bedenken Gorbatschows, Thatchers und Mitterands mit den globalen Machtansprüchen der USA austarierte. War Kohl zunächst nur ein Spielball der vier Besatzungsmächte, übernahm er mit der Vorstellung seines „Zehn-Punkte-Programms zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag die Initiative und ebnete damit den Weg in die Einheit. Kohl hatte die Gabe, die für das Erreichen seiner Ziele notwendigen Vertrauensverhältnisse aufzubauen und seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, jederzeit gleichberechtigt zu sein und gleichermaßen als Gewinner dazustehen. Bereits am 3. Dezember erzielte Kohl mit Bush bei einem gemeinsamen Abendessen Übereistimmung über die Wiedervereinigung, Wochen später, gelang es ihm auch, den zunächst aufgebrachten Gorbatschow zu beruhigen und Kohl erhielt am 10. Februar 1990 dessen Zustimmung, seine Visionen zur Wiedervereinigung in die Tat umzusetzen.

Auch heute noch sehr diskussionswürdig bleibt das Ergebnis der Transformation, erwirkt durch die unverändert latente Angst der mittel- und osteuropäischen Staaten vor Russland und dem damit bedingten unbändigen Willen der Eingliederung in die westlichen Systeme als Schutzschirm. Versuche, die gerade durch die Aktivitäten der osteuropäischen Staaten etablierte Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), deren Schlussakte am 1. August 1975 durch 35 Staats- und Regierungschefs in Helsinki unterschrieben wurde, in der „Wendezeit“ aufzuwerten und in eine operative Sicherheitsorganisation umzugliedern, waren vergeblich. Der am 19. November 1990 durchgeführte KSZE-Sondergipfel in Paris, an dem viele die Erwartung eines zweiten „Wiener Kongresses“ hegten (der erste 1815 beendete die Ära Napoleon und brachte viele Jahrzehnte Friede über Europa), sowie später am 9./10. Juli 1992 der „Helsinki-II-KSZE-Gipfel“, brachte zwar viele Ergebnisse im Bereich der Rüstungskontrolle, aber war nicht das gerade von französischer Seite erhoffte „Ereignis des Jahrhunderts“. Als Rettungsanker blieben die NATO für die Sicherheit sowie die EU für die Wirtschaft. Die Richtung Demokratisierung strebenden Nationen wurden somit fast magisch angezogen in ein bestehendes System eingegliedert, anstelle, so Spohr, diese Zeit des Umbruchs wirklich für eine komplette Umgestaltung der Sicherheitsarchitektur zu nutzen. Dies hätte unter Einbindung Russlands sowie ggf. auch China als gleichberechtigte Partner nicht zu dem geführt, was wir heute einschließlich der Re-Fokussierung vieler Nationen auf Landes- und Bündnisverteidigung wie zu Zeiten des Kalten Krieges vorfinden. Trotz der großen sowjetischen Zugeständnisse im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands sowie der Unabhängigkeitsbestrebungen der ehemaligen Sowjetrepubliken fehlte das Gespür für Sentimentalitäten und nicht zuletzt die herablassende Behandlung Russlands durch den Westen führte dort zu einem Gefühl der Entfremdung und Marginalisierung. Dies machte sich dann letztendlich Putin zunutze, der hervorragend auf diesem (nationalistischem) Klavier zu spielen wusste und weiß.

Bei allem Jubel und Trubel um die friedvolle Transformation in Europa, sollte man nicht vergessen, dass in China am 4. Juni 1989 über 2.500 Menschen getötet wurden, um die Macht der Kommunistischen Partei Chinas zu erhalten und den eigenen chinesischen Weg einzuschlagen. Spohr bezeichnet dies als eine „Mischform eines kommunistisch kontrollierten embryonischen Kapitalismus“. Aus dieser „organischen Synthese“ einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ wuchs China zumindest wirtschaftlich zum größten „Global Player“ der heutigen Zeit, weil es im Gegenzug zu Japan, dass zunächst die dominierende Rolle im Pazifikraum einzunehmen schien, verstand, das Exporte alleine für eine geo-ökonomische Dominanz nicht ausreichen. Und Putin hat seit seiner Inthronisierung als Präsident der Russischen Föderation im Jahre 2000 Teile diese Art von Politik übernommen, mit starken Repressalien gegen das eigene Volk mit größtenteils undemokratischen Mitteln den Weg des Landes in die Anarchie verhindert, die Kontrolle wiedergewonnen und in Teilen wirtschaftlich, aber vor allem außen- und sicherheitspolitisch wieder auf die Weltbühne zurückgeführt.

Zusammenfassend, nach den beiden Bestsellern „Höllensturz“ und „Achterbahn“ des renommierten britischen Historikers Ian Kershaw, sowie „Der Kalte Krieg“ von Odd Arne Westad liegt nun mit „Wendezeit“ ein viertes, sehr beeindruckendes und absolut lesenswertes Buch über die politischen Vorgänge und Abläufe im 20. Jahrhundert vor. Die „Wendezeit“ ist für die Autorin geprägt durch zwei unterschiedliche Wege: einerseits dem chinesischen Weg nach der Niederschlagung des Aufstands auf dem Tiananmen-Platz und die friedvolle Revolution um den Mauerfall. Ausschlaggebend dafür waren die von Spohr herausragend dargestellten Interaktionen der wichtigsten Staatsführer dieser Zeit und die Rücksichtnahme auf deren Befindlichkeiten und Sensibilitäten. Spohr stellt die Vorgänge von 1989 bis 1992 genauestens nach, ja fast minutiös, berichtet aus der Brille und dem Blickwinkel der Akteure. Sie beurteilt treffend die teils gegensätzlichen Ansichten und oftmals situativ getroffene Entscheidungen und liefert uns so eine „Perle“ unter den Büchern zu den Umstürzen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre. Dies unterstreichen auch die vielen aufgeführten, unheimlich bereichernden Anekdoten in dem Buch.

 

Es wird mehr als deutlich, dass im Gegensatz zur heutigen Zeit, in der Staatsoberhäupter nur noch über Twitter und anderen sozialen Medien ihre Staatsgeschäfte kundtun, der unmittelbare Kontakt und Informationsaustausch, das Gespräch, mit die wichtigsten Gründe für den bedachten Ablauf der Geschichte waren. So konnten keine Missverständnisse entstehen bzw. wurden sofort geklärt. Nicht auszudenken, wenn sich die Jahre 1989 bis 1992 in der heutigen (sozialen) Medienwelt abspielen würde. So gesehen regt das Buch in einem Zeitalter von Trump, Putin oder auch Macron an, über die Art und Weise heutiger, weit weniger umsichtiger Staatsführung nachzudenken. Das überwiegend unsachliche Kritisieren von langjährigen Partnern, das Infrage stellen von bewährten Allianzen (z.B. NATO oder aber auch EU), schwächen eigentlich Verbündete und stärken die gemeinsamen Gegner, die ihrerseits immer selbstbewusster auftreten. Unsere Welt ist heute geprägt von unzähligen kleineren Konflikten sowie zwischen- und innerstaatlichen Kriegen, welche auch die USA nicht in Zaum halten kann. Auch wenn in der damaligen „Wendezeit“ vieles Zufall und „glückliche Fügung“ war, sachte Diplomatie, vorbreitet erst auf der Arbeitsebene bevor dann für abgestimmte Entscheidungen die Regierungschefs gleichermaßen bedacht diskutierten, weiterverhandelten und im Konsens entschieden, waren der Grundstein für friedvolle Prozesse. Auch wenn die vielen Gremien wie NATO und EU durch die Erweiterung immer größer und damit in den Entscheidungsprozessen schwerfälliger werden, die langwierig aufgebauten Netzwerke müssen weiter Bestand haben, so der Appell der Autorin.

Mit der Auflösung der Sowjetunion verschwand der Kalte Krieg relativ plötzlich, obwohl es dazu eine lange Vorgeschichte gab. Das bringt uns die Autorin nachdrücklich nahe. Dass es nicht zur der von Bush anfänglich zitierten und proklamierten „neuen Weltordnung“ kam, lag auch an Veränderungen jenseits Europas, deren Kräfte durch die westliche Politik nicht einzufangen oder zu ordnen waren. Dies auch noch darzulegen war aber nicht die Absicht Spohrs, darüber wurden bereits hinreichend andere Bücher geschrieben. Aber das bis auf den Balkan „dreijährige Wunder der friedlichen Revolutionen“ in Europa, welches die bisherigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse komplett auf den Kopf stellte, wurde noch nirgends besser erklärt. Ausschlaggebend dafür war für Spohr das Machtdreieck oder auch Kraftfeld wie sie es nennt Gorbatschow – Bush – Kohl. Anhand der „Scharnierjahre“ von 1989 bis 1992 wird uns die Entstehung der heutigen geopolitischen Ordnung erklärt, aus der sich der globale Kapitalismus entwickelt hat. Deshalb, so Spohr, geht es zukünftig weniger um die führende Rolle der Gesellschaftsform, ob nun Demokratie, Autokratie oder Kommunismus, sondern um geostrategische und vor allem ökonomische Stärke. Das ist, was China in Bezug auf die „Dritte Welt“ beginnt konsequent auszuspielen und deshalb die Welt, die lange Zeit durch das amerikanische oder sowjetische Politikmodell geprägt war, hin in eine Triangularität führt. Spohrs Buch ist keine Glaskugel, um damit in die Zukunft zu schauen, aber bei ihr zu Lesen, warum vieles so gekommen ist, wie wir es heute erleben ist, ist ein Genuss.

 

Fazit: „Wendezeit“ ist ein „muss“ für jeden zeithistorisch interessierten Leser.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2020 Andreas Pickel, Harald Kloth