Roman
München ; Penguin ; 2020 ; 216 Seiten ; ISBN 978-3-328-60096-1
Als ich vor über 10 Jahren das Buch „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell rezensierte, dachte ich nicht, dass es etwas dermaßen verstörendes und
selbstzerstörendes nochmals geben wird – bis, ja bis ich nun den neuen Roman von Rosa Liksom „Die Frau des Obersts“ gelesen habe. Während es aber bei Littell um die Grausamkeiten einer SS
Einsatzgruppe an anderen, für diese minderwertigen Gruppen, im Rahmen von unmittelbaren Kriegsgeschehen geht, handelt das Buch von Liksom um eine Frau, die das, was der Krieg aus Menschen machen
kann, das Ausbrechen des Raubtiers im Menschen, nachzeichnet, sie in grausamste und erniedrigenste Art und Weise am eigenen Körper spüren lässt. Es geht um die Erfahrung und den Umgang mit Gewalt
in einem durch Kriegserfahrungen stimulierten Umfeld im privaten Bereich.
Um die Beschreibungen besser einordnen zu können, zunächst einen Blick auf die außenpolitischen Rahmenbedingungen und Geschehnisse der Zeit, in welcher der Roman spielt: Helsinki hatte 1940 die
Nähe zu Deutschland gesucht, weil man glaubte, dass Berlin den Zweiten Weltkrieg gewinnen würde. Schon 1941 sollten sich diese Hoffnungen nicht erfüllen. Ab 1942/43 versuchte das kleine Land in
Nordeuropa, sich in einer Art diplomatischem Schlingerkurs zwischen den USA, Deutschland und der Sowjetunion zu behaupten - erfolglos.
Obwohl Finnland keine Führerdiktatur, sondern eine Präsidialdemokratie mit einem Mehrparteiensystem und einer unabhängigen Presse war, nahm Finnland von 1941 bis 1944 an der Seite Deutschlands am
Krieg gegen die Sowjetunion teil. Man versprach sich so, eigene machtpolitische Interessen durchzusetzen, während Hitler-Deutschland an den Rohstoffvorkommen des Landes sowie der strategisch
wichtigen Lage Finnlands interessiert war. Nach einer ersten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und Finnland 1939/40 betrieb Präsident Ryti im Herbst 1940 mit Zustimmung
des finnischen Reichstages die Annäherung an Deutschland, die man in der ersten Jahreshälfte 1941 auf höchster militärischer Ebene intensivierte. Dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22.
Juni 1941 folgte vier Tage später der Kriegseintritt Finnlands.
Das Oberkommando über die finnische Armee übernahm seit 1939 Gustav Mannerheim, der in dem Buch auch eine Rolle spielt. Er brachte trotz seiner antikommunistischen Einstellung den Deutschen keine
große Sympathie entgegen.
Bereits Ende des Jahres 1941 war man in der politischen und militärischen Führung Finnlands über den Verlauf des Krieges enttäuscht. Der deutschen Wehrmacht war es nicht gelungen, die Sowjetunion
zu besiegen. Finnland musste sich darauf einrichten, auch in Zukunft mit der russischen Bedrohung zu leben. Als sich im Herbst 1942 abzeichnete, dass die Wehrmacht Russland nicht besiegen würde,
ging man in Helsinki auf Distanz zum Reich und es folgten erste amerikanische Versuche, Helsinki einem Sonderfrieden mit der Sowjetunion schmackhaft zu machen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt
ein Bruch mit Deutschland noch nicht beabsichtigt, so dass eine Annäherung an die USA nicht zustande kam.
Aber als das Misstrauen Helsinkis in die militärische Leistungsfähigkeit der Deutschen Wehrmacht wuchs, wurde die Zusammenarbeit zwischen Finnen und Deutschen immer problematischer. Die USA
forderten Finnland erneut auf, aus dem Krieg auszuscheiden. In Helsinki war man unschlüssig, doch schließlich kam man Mitte 1944 zu der Erkenntnis, dass das kleine Land den Krieg trotz deutscher
Waffenhilfe nicht weiterführen konnte.
Am 1. August 1944 trat Staatspräsident Ryti zurück, Marschall Mannerheim übernahm als Übergangspräsident und versuchte, sein Land aus dem Zweiten Weltkrieg herauszuführen.
Am 2. September 1944 billigte der Reichstag die sowjetischen Bedingungen und erklärte, dass Finnland den Kriegszustand mit Moskau beenden würde. Am 13. September 1944 verließen die letzten
deutschen Soldaten Südfinnland, doch der Rückzug der über 200.000 deutschen Wehrmachtsoldaten konnte nicht über Nacht durchgeführt werden, auch, weil Hitler sich weigerte, wie an anderen
Frontabschnitten auch, rechtzeitig Gelände zu räumen. Als sich Finnland und Deutschland nun gegenseitig im Krieg befanden, hatte vor allem die Zivilbevölkerung darunter zu leiden, dass die
Deutschen einen Rückzug nach dem Prinzip der „verbrannten Erde“ praktizierten.
Das in der Ich-Form geschriebene Buch, ohne je einen zumindest fiktiven Namen der Erzählerin zu erfahren ist alles andere als leicht verdauliche Kost, im Gegenteil, man braucht schon ein gewisses
Maß an Abgebrühtheit, um das zu ertragen, was einem da an Bildern vor Augen geführt wird. In jeder Phase ist uns Leid und Tod allgegenwärtig, bereits in ihrer Kindheit, an den Schauplätzen der
Kriegshandlungen, in Gesprächen mit Freunden und Bekannten und vor allem in der Beziehung zu ihrem Partner und späteren Ehemann, dem Oberst. Schon als Kind lernt die Erzählerin IHREN Oberst
kennen und auch, dass es männlich ist, als Mann ein Tyrann zu sein, dass ein Mann hassen muss, um den Kampf um Liebe zu gewinnen, moralisch überlegen ist, die Frau das zu akzeptieren hat und
ihren Mann klaglos zu lieben hat. Dabei träumt sie von einer gleichberechtigten Welt aus Liebe, Zärtlich- und Nettigkeiten zwischen Mann und Frau. Auch als Kind erfährt sie bereits Gewalt, meist
von der Mutter, und lernt dort auch, diese quasi als normal klaglos zu ertragen sowie Entbehrungen hinzunehmen. „Alles, was nicht nötig ist, ist Sünde“, war der Lieblingssatz ihrer Mutter. Mit 13
wich ihre Angst und der Respekt vor dem Oberst und seiner Uniform, im Gegenteil, er weckte immer mehr ihr Begehren und erregte sie. Sie erkannte ihn ich lange Zeit nicht das Böse, sondern in
seiner Uniform bloß einen gutaussehenden Offizier. Besonders befremdlich auf den Leser wirkt, wie widerstandslos sie sich dieser Gewalt hingibt, sie quasi anzieht, ja sogar bereit ist, diese
Gewalt anzunehmen und daraus eine ganz eigene Energie für den Lebensalltag und ihr ausschweifendes Sexleben zu ziehen. Sie wirkt wie ein Kettenhund, der immer wieder wehrlos die Demütigungen und
Gewalt seines Herrn und Gebieters ertragen muss und ihn trotzdem bedingungslos schützt.
Ihr Freund, der wesentlich ältere Oberst berauscht sich an den Grausamkeiten des Krieges, die um ihm herum wüten, genießt die Nähe zu und den Luxus all der Nazi-Größen. Hier verknüpft die Autorin
das fiktive Paar mit realen Figuren seiner Zeit, zum Beispiel mit Albert Speer, Generaloberst Eduard Dietl, dem Kommandeur der Gebirgsjägertruppe, oder sogar Hitler, der 1942 anlässlich des 75.
Geburtstages des finnischen Oberbefehlshabers und späteren Staatspräsidenten, von Mannerheim, in Finnland weilte. Aber auch die Erzählerin genießt das Leben im Luxus, teure Seidenunterwäsche,
gutes Essen und Wein, teure Pralinen und ignoriert die sichtbare Gewalt, welche die Nazi und deren finnischen Sympathisanten an Andersdenkenden verübten. Sie sah die Pflicht der Frauen darin,
dafür zu sorgen, dass sich die Männer auf das Kriegführen konzentrieren konnten. Aber, sobald der Oberst dabei seine eigenen Perversionen nicht in Kriegshandlungen ausleben kann, tobt er sich in
hohem Maße gewalttätig an seiner Frau aus. Trotzdem ist sie fasziniert von ihm, ja in einem körperlichen Abhängigkeitsverhältnis. Der Krieg vergrößert ihre Gemeinsamkeiten, „die Nähe des
Todes wirkte auf uns wie ein Magnet“. Sie haben sogar Sex auf Panzersperren, zwischen Betonkegeln und hinter Stacheldrahthindernissen. Als Finnland einen Separatfrieden mit Russland schließt
und er sich weigert, einen Art Untergrundkrieg gegen seine eigene Armee zu führen, taucht der Oberst unter und heiratet nach „zehn Jahren Techtelmechtel“ sein „Spielzeug“. Auf die Frage an ihn,
warum er sie quäle und fast jeden Monat versuche, sie umzubringen, antwortet er lapidar: Wen man liebt, dem gibt man Hiebe! Und so ist die Zeit mit ihm ein Wechsel aus körperlicher Misshandlung
sowie Erniedrigung und zahmen, zärtlichen Momenten, wenn sie gerade wieder vom Arzt oder gar aus dem Krankenhaus zurückkommt. Mangels Aggressionsabbau im Krieg, werden nun die Misshandlungen wie
eine Art Monster an seiner Frau immer noch brutaler, bis sie schließlich halbtot geprügelt im Krankenhaus landet und sie sich dann mittels einer Freundin endlich aus der Abhängigkeit von ihrem
Oberst lösen kann. Sie beginnt nun ihrerseits eine Beziehung zu einem noch nicht mal volljährigen Jugendlichen.
Liksoms Buch ist faszinierend, zum Beispiel in seinen Naturbeschreibungen, und in seinen Beschreibungen der Gewalt und der Denkweise der Erzählerin abstoßend zugleich. Hervorragend werden
nationalsozialistische Ideologie in seinen wahnwitzigen Auswüchsen und der Übergriff auf andere Menschen mit Gewalt und andererseits auch so was wie Liebe verknüpft. Die einzelnen Abschnitte
werden jeweils durch Lebensweisheiten verbunden, welche die krassen Beschreibungen auf den Punkt bringen. Die Bildsprache ist ebenso faszinierend und abstoßend zugleich. Besonders krass ist die
Beschreibung, als sie beim Sex mit ihrem Oberst im Detail beschreibt, wie die ihre gerade geschenkte Katze Nofretete eine Maus qualvoll zu Tode massakriert.
Liksom beschreibt, wie menschliches Begehren fast bis zur physischen und psychischen Selbstaufgabe führen kann. Ihr Dilemma umschreibt sie so treffend mit den Worten: „Ich wusste ja, was mir
mit dem Oberst bevorstand, aber ich wusste nicht, was ohne ihn auf mich zugekommen wäre“. Andere Frauen würde der viel ältere Oberst anekeln, sie aber verbindet mit ihm pure Lust, durch
seine Bereitschaft für Gewalt spürt sie wie ein „Pawlowscher Hund“ immer ein Kribbeln zwischen den Beinen. Die Liebe ist ein auf und ab, mal Genuss, aber auch mal Leiden, nur hier ist es eher ein
Dauerleiden. Sprachlich ist das Buch ein Genuss! Allerdings nur für denjenigen, der weder sensibel ist noch derzeit in einer unglücklichen Beziehung lebt.
Die Erzählerin steht ohnmächtig dem gegenüber, was mit ihr passiert, erleidet permanente psychische und physische Schmerzen und endet anstelle mit dem, was ihre Sehnsüchte erfüllen sollen, im
totalen Frust. Den Tod anderer ignoriert sie nicht nur, sondern findet Gefallen daran. Sie war nicht nur Opfer eines Monsters, sondern auch Komplizin, zumindest glühende Sympathisantin der
Nazi-Verbrecher. Erst mit dem eigenen Tod vor Augen löst sich ihre Abhängigkeit von Brutalität.
Fazit: Wie der perverse Krieg der Nationalsozialisten eben genau ein dermaßen abartiges unterwürfiges Verhalten begünstigte, das führt uns der Roman nachdrücklich und sehr nachdenklich vor Augen.
Andreas Pickel
© 2020 Andreas Pickel, Harald Kloth