Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie

 

Berlin ; Suhrkamp ; 2020 ; 215 Seiten ; ISBN: 978-3-518-12753-7
 

Schon lange vor der Corona Pandemie, die weltweit in allen Bereichen, sei es wirtschaftlich, gesundheitspolitisch oder auch gesellschaftlich, eine schwere Krise auslöste, gab es bereits im Zuge u.a. von Terroranschlägen Mitten im Herzen Europas, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Klimawandel sowie der ständigen Differenzen der EU-Staaten laute Stimmen, welche die Demokratie am Liebsten zu Grabe getragen hätten. Zumindest wurde ihr ihre Wertigkeit als wichtigste Herrschaftsform zunehmend abgesprochen. Gerade den rechten Parteien ist es dabei gelungen, die eigentlich andere Botschaften zu vermitteln wollenden Demonstrationen (wie auch jetzt die Demonstrationen gegen die COVID19-bedingten Beschränkungen der Grundrechte durch den Staat) für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und die heutige Form der Demokratie an den Pranger zu stellen. Viele namhafte Politiker, Politikwissenschaftler und Autoren haben dazu in den letzten Monaten Zeitungs- und Internetartikel, ja ganze Bücher publiziert, die sich aber meist nicht zielführend oder ausgewogen mit der suggerierten Entdemokratisierung auseinandergesetzt haben. Eindeutig herausstechend aus allen Publikationen ist dabei das kleine Essay von Philip Manow, (Ent-)Demokratisierung der Demokratie, der die Problematik auf knapp 200 Seiten exzellent auf den Punkt bringt und erklärt, warum gerade in letzter Zeit die kleinsten Erschütterungen die eigentlich soliden Fundamenten unserer Demokratie zum Beben bringen.

Die Demokratie an sich, so Manow, ist gar nicht das Zentrum der Kritik, sondern die Art und Weise wie sie ausgeübt wird. Demokratie beherbergt ja gerade den Widerspruch, dass sie einerseits die Volksherrschaft darstellt, das heißt, Entscheidungen werden durch den Mehrheitswillen des Volkes getroffen, aber durch die in der westlichen Welt praktizierten Form der repräsentativen Demokratie wird dieser Mehrheitswillen an (gewählte) „Repräsentanten delegiert, die zwar wie früher auch schon, aber heuzutage verstärkt, politische Richtungen vorgeben, Meinungen äußern, ein Programm haben, um es dann am nächsten Tag aufgrund gewisser äußerer Zwänge wieder anders, widersprüchlich darzustellen. Manow beschreibt also (repräsentative) Demokratie sehr treffend als eine Herrschaftsform, die den Pöbel von der aktiven Politikgestaltung ausgrenzt, also “etwas in der Demokratie beständig Anwesendes abwesend zu halten“. Dazu kommt, im Gegensatz zu noch vor 20 Jahren, der quasi „zeitgleiche“ investigative Charakter der neuen Medien. Zwar hat die freie Presse auch schon früher Skandale aufgedeckt, aber heutzutage ist es eine Sache von wenigen Sekunden, bis Falschaussagen sich verbreiten (siehe z.B. die derzeitige „Mautaffäre“ des Verkehrsministers Scheuer). Dieser bewusste, eigentlich gesetzlich legitimierte Ausschluss des Volkes von unmittelbaren Entscheidungen sowie die, sagen wir mal gewisse Ignoranz von Politikern, wirklich „im Auftrag des Volkes“ zu agieren, nehmen dann Populisten zum Anlass und mobilisieren leicht zu beeinflussende Menschen für ihre Zwecke in nicht mehr sich im Rahmen der Demokratie bewegenden Demonstrationen und Kundgebungen und polarisieren so die Bevölkerung.  

Dazu, so der Autor, kommt noch, dass die von ihren Wahlkreisen aufgrund eines gewissen individuellen Programms gewählten Repräsentanten gar nicht in den selbst gesetzten Projekten und politischen Zielen bewegen und agieren können, sondern sich oft genug der Parteidisziplin zu unterwerfen haben … zumindest die, die innerhalb der Partei Karriere machen wollen. Und diese Parteidisziplin führt zu Kompromissen, die sich dann in einem Parteiprogramm widerspiegeln, das einzig darauf ausgelegt ist, die Mehrheit der Wähler für sich zu gewinnen und die nächsten Wahlen zu gewinnen. Man denkt also nur noch von heute auf morgen, von Wahl zu Wahl und nicht mehr langfristig, was in vielen Bereichen notwendig wäre (z. B. Renten- und Gesundheitspolitik). Da die Parteien immer kurzfristiger auf die sich ändernden öffentlichen Meinungen reagieren müssen, finden die ursprünglichen Aufgaben von Parteien, Interessen ihrer Anhänger stringent und konsequent zu vertreten und in deren Sinne zu regieren, so nicht mehr statt. Wer an die Regierungsmacht möchte, so Manow, muss in seinem Partei-/Wahlprogramm das abbilden, was die Mehrheit der Wähler lesen und hören möchte. Dies wiederum führt zu einer Gleichheit der Programmatik (Manow nennt das treffend eine „programmatische Ununterscheidbarkeit“) aller sich um die politische Mitte bewegenden Parteien, im Buch deshalb als „Kartellparteien“ bezeichnet, was die an den politischen Rändern agierenden radikaleren Parteien für sich zu nutzen wissen. Deren konträr klingenden Parolen sind aber meist nicht mit einem belastbaren Programm hinterlegt. Also die „Manow’sche Kausalkette: das gesamte Volk kann nicht regieren – folglich Repräsentation – diese ist in ihrer Ausgestaltung der Kern der Krise der Demokratie und fußt wiederum auf einer Krise der Parteien, ist absolut plausibel und für die politisch halbwegs interessierten Menschen tagtäglich wahrnehmbar.

Eine weitere Folge sind wie Manow richtig darstellt Staatsführer wie Trump oder auch Macron, die zwar demokratisch ausgewählt wurden, aber dann außerhalb ihrer Partei mit extremen Ansichten Politik machen. Das heißt, derartige Politiker, eigentlich repräsentative Akteure einer Partei, funktionieren nicht im Sinne dieser Partei und auch nicht im Sinne ihres Wahlkreises, sondern handeln nur zu ihrem eigenen Nutzen, für ihre eigene Karriere oder Machterhalt. Dies führt dann kurioserweise dazu, dass die früheren zwischenparteiischen Streitigkeiten zu Zeiten eines Franz Josef Strauß nun innerparteilichen Konflikten weichen (siehe z.B. das „Absetzungsprozedere“ der ehemaligen SPD Vorsitzenden Nahles), weil der Emporkömmling, der alles andere als „party poltiics as usual“ betreibt, zu Popularität gelangt und das zu Lasten der Partei. Negativ wirkt sich dann noch aus, wenn Entscheidungsträger, wie oft genug hier in Deutschland festzustellen, mangels Verantwortungsbewusstseins versuchen, notwendige Entscheidungen woanders hin zu delegieren, z.B. zu Untersuchungskommissionen oder zu überstaatlichen Instanzen wie die Europäische Union, die selbst ein Demokratiedefizit hat oder gar zu Gerichten, die dann kurioserweise meist entgegen der Absicht der „auftraggebenden Entscheidungsverweigerer“ urteilen.

Das Volk, oft unabhängig von Parteienaffinität, wird in Befürworter und Gegner von charismatischen Politikern gespalten und die Verunsicherung über die Einflussmöglichkeiten des Korrektivs der Parteien erschüttern damit in letzter Konsequenz das Vertrauen des Volkes in demokratische Mechanismen, die so leicht und selbstherrlich ausgehebelt werden. Gleichermaßen wird dies durch die Medien verstärkt, die lieber einen „Hahnenkampf unter Menschen“ kommentieren und oder innerparteiliche Differenzen medial ausschlachten, als unterschiedliche inhaltliche Positionen zwischen den Parteien. Dies alles radikalisiert sich dann zunehmend, so Manow. Das heißt, demokratische Verfahren bedingen fast schon ein der Entmachtung der Parteien gleichgestelltem Procedere und führt so zur Krise der Demokratie selbst. Während früher die Demokratie die Grenzmauer zu anderen Staaten mit einer anderen Herrschaftsform bildete, fühlen sich heute innerhalb der Grenze, also eigentlich innerhalb der Demokratie, Staatsführer als die eigentlichen Demokraten und bezeichnen und verdächtigen die Gegner als die wahren Feinde der Demokratie oder gar antidemokratisch (siehe z.B. auch das kürzlich erste TV-Duell des amerikanischen Präsidenten Trump und seines demokratischen Herausforderers Biden).

Die Frage, warum dann die westlichen Staaten nicht mehr als die stabile Mauer der Demokratie gegenüber Kommunismus sowie radikalem Nationalismus gelten, führt Manow dann zum zweiten Teil seines Essays mit dem Titel „Entdemokratisierung der Demokratie“. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass viele Entscheidungen im Zuge der Flüchtlingskrise, Banken- und EU-Krise, sicherheits- und außenpolitische Aktionen und Reaktionen nicht immer demokratisch verliefen. Daran ist die deutsche Kanzlerin nicht ganz unbeteiligt.

Das Buch ist nicht immer leicht zu lesen ist und setzt ein grundlegendes Verständnis für Politik und wie Politik gemacht wird voraus, um den Gedankengängen zu folgen.  Aber Manow analysiert exzellent abseits von Neoliberalismus oder populistischen rechten Politikern die Demokratiekrise und erläutert seine Sichtweise nachvollziehbar. Es sind nicht immer nur die Populisten im rechten und linken Spektrum der Hiob der Demokratie, sondern die vermeintlichen Demokraten selbst, siehe Trump und Johnson. Um die unberechenbare Herrschaft des Volkes in geordnete Bahnen zu lenken, sollten die Repräsentanten des Volkes den Staat regieren und nicht das Volk selbst. Doch nun sind die Repräsentanten des Volkes eigentlich unberechenbarer wie ein vielschichtiges Volk. Waren die früheren Gegner der Demokratie Faschismus und Kommunismus, dann nur noch der Kommunismus, ist es heute die Demokratie selbst, die nur noch die Gegenwart eher verwaltet als gestaltet. Die Demokratie ist für Manow eine Herrschaft ohne Selbstbestimmung und muss sich neu legitimieren, um nicht noch weiter in die Krise zu rutschen. Insgesamt, trotz der vieles überlagernden Corona-Pandemie, ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit für das Verständnis der heutigen Demokratie- und Politikverdrossenheit, welches hoffentlich den Diskussionen zu Wegen für wieder mehr Demokratiegestaltung in der Demokratie neuen Auftrieb geben wird.

 

Fazit: Exzellente Analyse und wichtiges Buch zum Verständnis der Demokratieverdrossenheit.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2020 Andreas Pickel, Harald Kloth