München ; C.H. Beck ; 2021 ; 303 Seiten ; ISBN 978-3-406-76898-9
Die Herrschaft des proklamierten tausendjährigen Dritten Reiches war ja bekanntermaßen bereits nach 12 Jahren beendet, aber die Wirkungsdauer und Anziehungskraft der Nationalsozialisten begann
weit vor 1933 und endete erst Jahrzehnte später. Aber was waren das eigentlich für Menschen, die sich mehr oder weniger bedingungslos Hitlers wahnwitzigem Programm unterwarfen? Kann man diese
Menschen in einen Topf werfen, also quasi „clustern“ oder war die Gruppe der Gefolgsleute dazu einfach zu heterogen? Stammten die Nationalsozialisten aus demselben Milieu, haben Sie eine ähnliche
Sozialisierung? Antworten darauf gibt Ulrich Herbert in seinem neuen Buch: Wer waren die Nationalsozialisten?.
Der renommierte Historiker und mittlerweile emeritierte Professor Ulrich Herbert ist derzeit Leiter der Forschungsgruppe Zeitgeschichte, die im Schwerpunkt in insgesamt 16 Bänden „Die Verfolgung
und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ erfasst und aufarbeitet. In Verbindung mit seinen bisherigen Forschungsschwerpunkten kann der Autor wie kein
zweiter das Thema „Nationalsozialismus“ auch für ein breiteres Publikum fachlich fundiert und verständlich erklären. Herbert geht in seinem Buch mehr oder weniger chronologisch vor. Nach einem
ersten allgemeinen Kapitel über den „Typus“ Nationalsozialist beginnt er mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und endet schließlich, was einige vielleicht bei einem derartigen Thema nicht erwartet
hätten, weit in den Zeiten der Bundesrepublik Deutschland, in der viele, das Verbrecherregime aktiv unterstützende Eliten, bis zum Ruhestand in oftmals leitenden Funktionen ihre berufliche Heimat
fanden. Wo hatte der Nationalsozialismus seinen Ursprung, wie konnte diese Bewegung zum Genozid der Juden ausarten und dann trotzdem maßgeblich am Aufbau einer demokratischen Republik mitwirken?
Herbert erklärt diese scheinbaren Wiedersprüche! Er schrieb dafür kein neues allumfassendes Buch, sondern fasst in einer Art Kompendium frühere Vorträge und Aufsätze der Jahre 1995 bis 2020 zu
diesem Themenkomplex in einer logischen Sequenz zusammen.
Besonders interessant sind bereits zu Beginn seine Ausführungen zu den Konsequenzen des Ersten Weltkriegs in Hinblick auf die Etablierung eines nationalsozialistischen Regimes und deren
Großmachtstreben. Neben „inneren Gründen“ wie Begeisterung für Soldatentum anstelle Friedenssucht, das Sterben der kriegstüchtigen Starken anstelle der übriggebliebenen Drückeberger und
Schwachen, überbordender Sozialismus und Kommunismus als Hemmnis für die Kriegsführung sowie vor allem die Ablehnung der demokratischen Prinzipien zählt Herbert dabei zu den „äußeren Faktoren“
unter anderem die Vermeidung eines Zweifrontenkrieges, Überlegenheit in der Kriegsführung, des Willens, der Kampfkraft (der sogenannte Einsatzwert) zum Ausgleich etwaiger
Ressourcenunterlegenheit, Heranziehung der Industrie und Landwirtschaft in den eroberten Gebieten, Zwangsarbeiter zur Unterstützung der Kriegswirtschaft sowie im Besonderen die Kumulation aller
Gründe für die Niederlage und die „Schmach von Versailles“ im Judentum.
Im Weiteren widerspricht Herbert deutlich den Stereotypen, die lange Zeit über die Nationalsozialisten in der Bundesrepublik vorherrschten: einerseits die „einfach strukturierten“ blindwütig und
dem Führer absolut hörig agierenden Schläger- und Mördergruppen und andererseits in Abgrenzung dazu die in exponierten Positionen das System (unter)stützenden Akademiker und Eliten wie ein Albert
Speer, die sich versuchten von den Gräueltaten des „Mobs“ angeblich unwissend reinzuwaschen. Am besonders markanten Beispiel der Radikalisierung des Umgangs mit den Juden zeigt Herbert wie die
gutsituierten Intellektuellen aus Wissenschaft und Verwaltung dafür ihre Fähigkeiten als Teil des Nationalsozialismus zur Verfügung stellten und die Verschmelzung aus althergebrachten
Nationalsozialisten mit Nationalkonservativen einen unaufhaltbaren Prozess in Gang setzte. Von einer breitangelegten Strafverfolgung nach Kriegsende dann aber keine Spur. Zivilisiert aussehende
Menschen sind keine Massenmörder, so der lange Zeit allgemeine Tenor! Selbst der erste Bundeskanzler Adenauer sprach noch viele Jahre nach Kriegsende von nur einer kleinen Gruppe von Tätern im
Umfeld um Hitler, dabei waren spätestens nach den „Blitzkrieg-Erfolgen“ 1941 alle irgendwie euphorische Nationalsozialisten. Die Angst vor Strafverfolgung ließ viele Täter zumindest nach außen
hin mit der jungen demokratischen Republik assimilieren, Verbrechen der Vergangenheit sollten quasi durch Leistungen beim Wiederaufbau kompensiert werden. Die Amnestiegesetze von 1949 und 1954
unterstützen diese „Reinwaschung“, Abertausende der Angeklagten wurden für ihre Taten entlastet, anonymisiert, galten jahrzehntelang als (unwissende) Mitläufer. Erst die spätere Historikergarde
deckte dann nach und nach das wahre Ausmaß der aktiven Täter auf. Ulrich Herbert ist es zu verdanken, dass auch die „Administratoren“ und „Think Tanks“ der mörderischen Maschinerie als aktiv
Beteiligte in den Fokus der Aufarbeitung dieser dunklen Zeit gerieten.
Das Fehlen klarer Definitionen der nationalsozialistischen Begrifflichkeiten führte in den unterschiedlichsten Gruppen zu unterschiedlichen Interpretationen und damit zu einer irgendwann
unaufhaltsamen Dynamik. Bei Vernichtungspolitik hatten wir es deshalb nicht mit einer Art genetisch bedingten Abläufen einiger weniger Asozialen zu tun, deren Weg zum Massenmörder vorbestimmt
war, sondern es wurde im großen Stile getötet, was unter diesen Rahmenbedingungen wie als selbstverständlich hingenommen wurde, so kann man Herberts These zusammenfassen. Dabei partizipierte die
Gesellschaft, ohne weiter darüber nachzudenken an der Ausgrenzung und später dem Mord an den Juden, ohne etwas moralisch Verwerfliches zu tun.
Die eine Führer-Entscheidung zur Ermordung der Juden gab es nicht. Neben in „Mein Kampf“ skizzierte Hitler aber vor allem in seiner „Prophezeiung“ am 30.01.1939 (Reichstagsrede) seine
antijüdische Politik, die dann in aller Konsequenz umgesetzt wurde. Bereits mit Kriegsbeginn gingen die Nationalsozialisten konzeptionell von der Verfolgung zur physischen Vernichtung der Juden
über, dabei im Osten wesentlich brutaler als an der Westfront. Je weiter sie den Krieg ausdehnten, desto mehr radikalisierten sie ihre Judenpolitik. Für die Nationalsozialisten bildeten Krieg und
Genozid eine grausame Einheit. Irgendwann wurde das Überleben der Juden geringer bewertet als die Faktoren Lebensmittelknappheit, Wohnraum oder auch Arbeitskraft. In der Konsequenz überlebten
alleine von den drei Millionen polnischen Juden, so Herbert, nur 100.000 den Krieg!
Neid, Ressentiments und Angst gegenüber allem Moderne bündelte sich in Aversionen gegen die Juden, die als Sinnbild für die Erklärung von Niederlage, Unruhen und wirtschaftliche Not galten. Es
sind ganz allgemein drei Mechanismen, die einen zum Täter werden lassen: Die Delegation der Verantwortung, die Entscheidung, einem Befehl nicht zu widersprechen und die subjektive Distanzierung
von der Tat. Die beteiligten Menschen bewegten sich innerhalb eines normativen Referenzrahmen, es wird etwas getan, was getan werden muss (Die Endlösung ist gewollt und sinnvoll, auch wenn sie
unangenehm ist!?). Die Ausgrenzung und ab 1942 die Vernichtung konnte gar nicht als solche erlebt werden, da es dem Nationalsozialismus ab 1933 in einer unvergleichlichen Geschwindigkeit gelang,
die Ausgegrenzten als nicht zugehörig, als nicht mehr präsent darzustellen und es so niemanden näher berührte. Diese Ausgrenzung war verinnerlicht. Den Hauptgrund sieht Herbert in einer Art
Koordinatenverschiebung innerhalb der Gesellschaft. In einer phantasierten Existenzsicherung in einer ebenso konstruierten Welt, muss, um sich selbst zu etablieren und auf Kosten anderer besser
zu positionieren, ja zu bereichern, der andere ausgelöscht werden.
In einem Regime, dass unterhalb von Hitler als Leitinstanz von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften, die auch vielen Rivalitäten
und inneren Konflikten ausgesetzt war, fiel diese Verschiebung auf einen fruchtbaren Boden, der so manches Unrechtbewusstsein verschluckte. Herbert erklärt die damaligen Motive der Menschen so,
dass sie vielleicht aus heutiger Sicht nicht verständlich, aber zumindest nachvollziehbar sind. Selbst die gebildetsten Leute konnten den Verlockungen des Nationalsozialismus nicht wiederstehen,
Verlockungen wirtschaftlicher Art, Karriere, außenpolitische Erfolge. So waren es vor allem auch Naturwissenschaftler, Techniker, Ingenieure und Mediziner, die einerseits vom Regime gebraucht
wurden, aber im Wissen um ihre Wichtigkeit auch unheimlich profitierten – so wie später auch beim Wiederaufbau des sich am Boden befindlichen Deutschlands.
Nach dem Krieg schob man dann die Verantwortung einigen wenigen, meist bereits verstorbenen Protagonisten in die Schuhe und entlastete somit gleichzeitig unzählige Helfer und Helfershelfer in
exponierter und führender Stellung. Diese passten sich bereitwillig der neuen Situation an und wurden mehr oder weniger überzeugte Demokraten, auch als eine Art persönlichen Ankers, nachdem der
Führer abhandengekommen war. Aus heutiger Sicht moralisch sehr sehr verwerflich (siehe die Diskussionen um die Entlastung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern), aber die Verwaltungsexperten waren,
siehe auch die Aussagen Adenauers, unabdingbar für den Aufbau und die Etablierung des neuen demokratischen Staates. Diese „win-win-Situation“ deckte den Mantel des Schweigens über viele und
vieles.
Äußerst interessant und lesenswert ist das Kapitel über die vergleichende Betrachtung der nationalsozialistischen und der stalinistischen Gewaltherrschaft, in dem der Historiker vor allem die
unterschiedliche Zielrichtung und damit die politische Ausrichtung herausstellt. Auch unterteilten die Nationalsozialisten z. B. die Gesellschaft und damit ihre „Zielgruppe“ von Terror nicht
horizontal nach Klassen, sondern vertikal in Rassenzugehörigkeit. Ebenso widmet sich Herbert im Zusammenhang mit den Nationalsozialisten ausführlich dem oftmals vernachlässigten und ebenso
traurigen Kapitel der Zwangsarbeiter auf. Ohne dieses Heer von teils 10 Millionen Gepeinigten wäre der Krieg schon viel früher beendet gewesen.
Ohne durch inhaltliche Sprünge den Leser zu überfordern, überzeugt Herbert mit einer Fülle an Informationen, seiner Analyse und Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation und Thesen. Dies
unterstreichen auch die beiden letzten Kapitel. Zwar hat das NS-Regime durch Krieg und Massenmord die halbe Welt jahrelang beschäftigt, aber für die politischen Prozesse an sich war alles wenig
nachhaltig. Anders, so der Autor, lässt sich nicht erklären, dass quasi alle westlichen Nationen sich nach dem Krieg ähnlich entwickelten, es nicht einen nationalen Sonderweg in den
Industriegesellschaften gab, schon gar nicht den deutschen.
Auch in anderen Ländern gab es nationalistische Strömungen, aber die Nachwehen des Ersten Weltkriegs und das Trauma von Versailles radikalisierten die auch ökonomisch befeuerten Strömungen in Deutschland im Besonderen und damit, so der Autor, den speziellen Charakter der NS-Diktatur. Die aktuelle Forschungslage brillant zusammenfassend, verdeutlicht Herbert, dass die „Werkzeuge“ Hitlers eben nicht nur aus einer Minderzahl von Schlägertypen aus schwierigen Familienverhältnissen kamen, sondern vielmehr junge Akademiker aus Familien höherer Schichten waren. Diese waren im Schatten der für jedermann sichtbaren Schlägertrupps die eigentlichen (administrativ wie exekutorisch) Stützen der Verbrechen. An einzelnen Beispielen zeigt Herbert ebenso auf, dass es auch bei individueller Betrachtung oftmals keine Stringenz gab, sondern die Menschen oftmals auch vom Täter zum Widerständler, vom Saulus zum Paulus und wieder zurück wurden. Diejenigen Verwaltungseliten, die aktiv ein mörderisches Regime unterstützten, waren paradoxer Weise auch dieselben, welche dann mithalfen, eine Demokratie zu errichten. Die von fast allen Parteien hingenommene Einbindung von Tätern in das nachkriegsgeschichtliche Bürgertum (Herbert nennt dies „geduckter Opportunismus), neutralisiert deren Taten und die immerwährende Belastung der Gesellschaft mit den Verbrechen des Regimes. Historikern wie Herbert ist es zu verdanken, dass wir mittlerweile eine Erinnerungskultur an die dunkelste Zeit Deutscher Geschichte haben, die frei von Klischees ist.
Fazit: Auch wenn Herbert nichts grundsätzlich Neues präsentiert, ist das vorliegende Werk eine glänzende Analyse und zusammenfassende Darstellung seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem nationalsozialistischen Regime und dem Genozid an den Juden.
Andreas Pickel
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