Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts

Portrait einer Widerständigen

Berlin ; Propyläen ; 2021 ; 448 Seiten ; ISBN: 978-3-54910-018-9

 

Buchcover Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts
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„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“ (Auszüge aus den Verhörprotokollen, Februar 1943; Bundesarchiv Berlin, ZC 13267, Bd. 3)

 

Am 18. Februar 1943, dem Tag als Göbbels in seiner berühmt berüchtigten Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ aufrief, wurden die Geschwister Scholl bei der Verteilung ihres insgesamt sechsten Flugblattes festgenommen. Vier Tage lang werden sie der psychisch unmenschlichen Verhör- und Vernehmungsmaschinerie der Gestapo ausgesetzt, zum Tode verurteilt und am 22. Februar 1943, Sophie gerade mal 21 Jahre alt, hingerichtet. Die Festnahmen aller weiterer Mitglieder der Kerngruppe der Widerstandsgruppe die „Weiße Rose“ folgten alsbald. Auch sie wurden zum Tode verurteilt und schnellstmöglich hingerichtet. In der Folge werden insgesamt 8 Prozessen gegen 49 Angeklagte geführt. Um den Zynismus des Regimes zu unterstreichen, die Angehörigen wurden von der Schnelligkeit der Verfahren und Hinrichtungen schlichtweg überrumpelt – oftmals war nicht einmal eine letzte Verabschiedung erlaubt.

 

Aus den unzähligen Publikationen über den Widerstand gegen Hitler stechen zweifellos diejenigen über die „Weiße Rose“ (Titel der ersten vier Flugblätter der Gruppe) und innerhalb derer die über Sophie Scholl hervor. Dies insbesondere jetzt, als sich am 9. Mai ihr Geburtstag zum 100. Mal jährte. Während sich jedoch viele Autoren meist recht unkritisch auf Sophie Scholls zentrale Funktion innerhalb der Widerstandsclique fokussieren und die eigentlich wesentlich aktivere und antreibende Rolle ihres Bruders Hans sowie von Alexander Schmorell negligieren, entmythologisiert sie nun Robert M. Zoske in seinem Buch „Es reut mich nichts. Portrait einer Widerständigen“ ohne dabei ihre unzweifelhaft hohe Bedeutung für die Nachwelt herunterzuspielen. 

 

Nachdem Zoske schon vor drei Jahren in einer Aufmerksamkeit erregenden Biografie Hans Scholls Verdienste ins rechte Licht rückte, gelingt ihm dies gleichermaßen beeindruckend in quasi anderer Richtung mit Sophie Scholl. Zoskes Anspruch ist dabei hoch, er möchte den ganzen Menschen Sophie Scholl beschreiben, Fakten dar- und Fiktionen widerlegen oder wie er es formuliert, die gefühlte Wahrheit durch die historische Wirklichkeit ersetzen – und, um es vorwegzunehmen, dies gelingt ihm mit unzähligen Dokumenten belegt hervorragend.

 

Lina Sofie Scholl (Name gemäß Geburtsurkunde, erst später nannte sie sich Sophie) wurde am 9. Mai 1921 im württembergische Fochtenberg in Baden als viertes Kind von Robert, dem damaligen Bürgermeister der kleinen Stadt, und Magdalena Scholl geboren. Inge (*1917), Hans (*1918) sowie Elisabeth (*1920) waren die älteren, Werner (*1922) und Thilde (*1925) die jüngeren Geschwister. Nach einer kurzen Zeit in Ludwigsburg zog die Familie 1932 berufsbedingt nach Ulm, einer der Zentren der nationalsozialistischen Bewegung, wo Sophie zusammen mit ihren älteren Schwestern die Mädchenoberrealschule besuchte. Dort wohnte die Familie bis zur Hinrichtung von Sophie und Hans. 1935 lernte Sophie in der Schule Susanne Hirzel kennen, die bis zu ihrem Tode ihre beste Freundin wurde. Obwohl, so Zoske, ihr Vater kein überzeugter Nazi war, trat sie, nach einer kurzen Zeit bei den Jungmädels, bereits 1934 dem Bund Deutscher Mädels (BDM) bei, dem sie bis 1941, teils auch in führenden Positionen, treu blieb. Wer heute nur noch die Studentin Sophie Scholl vor Augen hat, übersieht, dass sie davor als Kindergärtnerin (nach dem Abitur ab 1940) und im Reichsarbeitsdienst sowie Kriegshilfsdienst (1941) tätig war und dies stets im Sinne des Systems. Im Juni 1942 zog sie in eine Studentenbude nach München, um dort Biologie und Philosophie zu studieren.   

 

Zoske gelingt es dank einer präzisen Auswertung und Verknüpfung der umfangreichen Dokumente sehr fesselnd, die Entwicklung und das Umfeld von Sophie Scholl und ihren Geschwistern zu beschreiben, beginnend bei dem Elternhaus und der Kindheit sowie vor allem ihren späteren Interaktionen zu Freunden/-innen. Sophie und Hans Scholl bescheinigt er dabei ein außergewöhnlich elitäres Selbstbewusstsein. Schon früh lernten sie in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater sich zu profilieren und einen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Ihr ältere Schwester Inge beschreibt Sophie eher als burschikos denn mädchentypisch, Kühnheit, Furchtlosigkeit sowie Waghalsigkeit kennzeichneten ihr zur Folge ihren Charakter. Sophie, zunächst begeisterungsfähig für das Regime und so gesehen gleichermaßen naiv wie andere Altersgenossen, wird als teils „hin- und hergerissene“ Frau beschrieben, stark introvertiert, uneitel und moralischer als vergleichbare junge Frauen. Die Liebe zur Literatur, mitgegeben durch die Familie, gab ihr stets Kraft und machte sie kritisch gegenüber der Ideologie der Nationalsozialisten. Sophie hatte wohl eine weit überdurchschnittliche Auffassungs- und Wahrnehmungsgabe, aus der sie wiederum die für sie notwendigen Handlungen schlussfolgerte. Grundsätzlich war sie aber wie jedes junge Mädchen, oft widersprüchlich, wenig stringent, ihren Weg suchend, aber eben zunehmend kritischer, ihren eigentlichen Charakter entwickelnd. Dabei ist dieser nicht von Egoismus geprägt, sondern die Verantwortung mit Gott für andere Menschen, ihre Fähigkeit zur Mitmenschlichkeit, führte in ihr persönliches Schicksal. Basierend auf diversen Eindrücken und Erlebnissen vollzog sie nach und nach eine innerliche Abkehr von der NS-Ideologie, die zunehmend ihren Vorstellungen von Menschlichkeit und Zukunft der Welt widersprach und religiös motiviert sah sie den Widerstand als ihre soziale Tat. Für die Verknüpfung von Geist und Tat war sie schließlich bereit, zu sterben.       

 

Generell fühlte sich Sophie eigentlich lieber alleine wohler als in Zweierbeziehungen und vor allem in Gruppen. Mit ihrer auch nach außen getragenen Intellektualität bildete sie einen Gegenpart zu den damaligen Geschlechternormen. Dies war vielleicht auch ein Grund für ihre spätere Stilisierung. Die Vernehmungsprotokolle nach ihrer Verhaftung betrachtend, bestätigt Zoske ihren Ruf als charakterlich unbestechlich, hält allerdings im Gegensatz zu anderen Autoren Sophie Scholl für zu Unrecht als die Hauptaktivistin der Widerstandsgruppe. Basierend auf vor allem einen immensen Fundus an Briefen, gab es für Zoske im Gegensatz zu dem vor allem durch die ältere Schwester Inge dargestellten Meinungsbild, nicht das EINE „Aha-Erlebnis“ um vom „Nazi-Toleranten“ zum aktiven „Nazi-Ablehner“ zu werden und das auch erst entgegen der bisherigen Meinung nicht schon Mitte der 30er Jahre, sondern erst Ende 1941 / Anfang 1942. Dort erlebte sie persönlich beim Kriegshilfsdienst im Schwarzwald mit, wie rücksichtslos, wie menschen- und auch naturverachtend die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik auf den Endsieg ausgerichtet war. Um studieren zu können, wurde sie gezwungen, in der Waffenproduktion aktiv für den Krieg zu arbeiten, was ihrem Gewissen absolut zuwider war. Dies widersprach ihren drei Leitlinien Freiheit, Pflicht und Glauben und führte schließlich zu dem unbändigen Willen, die Hitlerdiktatur zu beenden.      

 

Neben Tagebucheintragungen sowie der Freundschaft zu Susanne Hirzel, ist die wesentliche Quelle sich der Person Sophie Scholls umfassend zu nähern vor allem der Briefverkehr mit ihrem vier Jahre älteren Freund und Offizier der Wehrmacht Fritz Hartnagel, den sie mit 16 Jahren beim Tanzen kennenlernte. Obwohl sie auch miteinander schliefen, wollte sie mit ihm eigentlich eine Beziehung ohne körperliche Liebe. Gelüste und Sexualität verstellten Sophies Ansicht nach nur den Weg für einen objektiven Blick auf die Dinge. Mit Hartnagel tauschte sie sich nicht nur über die aktuellen politischen Themen aus, sondern insbesondere zu literarischen aber vor allem religiösen Themen. Sexualität und Hartnagels Kriegsfreude waren dabei die beiden wesentlichen Konfliktherde in dieser Beziehung. Maßgebend für Sophies religiöse Prägung ist vor allem ein kleines Konfirmandenbüchlein, welches so Zoske, Parallelen zu Sophies späteren Briefen und Tagebucheintragungen aufweist. Gerade mit Fritz Hartnagel kämpfte sie innerlich spirituell beseelt um Glauben und Liebe, ist, wie man so treffend formulieren könnte, einmal himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt. Auch wenn in Auswertung dieses in jeglicher Hinsicht leidenschaftlichen Schriftverkehrs die Liebesbeziehung der Beiden durchaus bis ins Detail durchleuchtet wird, ist es doch wichtig, Sophies „Irrungen und Wirrungen“ in der Suche nach Gott und ihrer Auslegung von Glaube aber auch hinsichtlich Liebe, Nächstenliebe, zu beschreiben, spielen diese doch einen wesentlichen Aspekt für den Weg in den Widerstand dar. Erst 1942, als die Wende im Krieg erreicht war, wollte Sie mit dem Glauben als Rückenstärkung, im Bewusstsein der Verantwortung für andere Menschen mit Gott gegen Hitler kämpfen. Jetzt erst überwog das Postulat der Freiheit dem Pflichtgefühl. Sophie wollte dahingehend aktiv was tun und nicht nur mündlich lamentieren und sich über Dinge echauffieren. Basierend auf ihrer Erziehung hatte sie so zunehmend ein starkes Bewusstsein für alles Illegale des Regimes und aus einem inneren Antrieb heraus musste sie aktiv gegen das Unrecht vorgehen. Sophie beurteilte ein Verhalten nicht nach politischen Kriterien, sondern nach den ethischen Maßstäben von „Recht und Unrecht“, nach dem Gewissen, dem inneren Richter über Gut und Böse. Dies arbeitet Zoske sehr deutlich heraus.      

 

Auf dem Weg in den Widerstand ist wohl allen Mitgliedern der „Weißen Rose“ und damit auch Sophie Scholl der innere Antrieb gemeinsam, sich gegen jegliche Autorität zu wehren aber vor allem die absolute Priorisierung der inneren Autonomie: Das von eigenen Werten geleitete Denken und Handeln. Die Widersprüche zwischen den eigenen Werten und den ihnen auferlegten Grenzen des Systems sowie Einschränkungen in ihrer Jugendkultur in Verbindung mit moralischer Verpflichtung brachten sie zusammen. Der Weg in den Widerstand war vielmehr ein schleichender Prozess der Entfremdung von der nach und nach gleichgemachten und uniformierten Umwelt. Die Dynamik der häufigen Begegnungen bei Musik, Studium und politischen Diskussionen führte zu dem Schritt in den aktiven Widerstand: aus Ablehnung wurde 1942 schließlich aktive Auflehnung.

 

In den letzten Wochen vor der Verhaftung ging es dann „Schlag auf Schlag“. Seit Sommer 1942 formierten sich neben Hans Scholl und Alexander Schmorell mit Christoph Probst und Sophie Scholl und wenig später außerdem Willi Graf und Kurt Huber die Kerngruppe der "Weißen Rose". Darüber hinaus versuchten Hans Scholl, Schmorell und Graf nach der Rückkehr von der Ostfront im Herbst 1942 Kontakte zu anderen Oppositionellen aufzubauen. Nach der Orientierungs- und Diskussionsphase gingen sie nun dazu über, mittels Flugblätter das Regime mit den Waffen des Wortes zu bekämpfen. Die Gruppe, so Zoske, war mit ihren Flugplattaktionen eher symbolisch tätig und hatte im Gegensatz zu dem militärischen Widerstand keine politische Alternative parat – also eine „Rose ohne Dorne“, obwohl Zoske diesen Vergleich anders nutzt. Zwischen dem 27. und 29. Januar 1943 erschien das fünfte Flugblatt, mit dem sie erstmals die breite Masse zum Handeln bewegen wollten: In ihren Augen war eine Invasion vom Westen aus nur noch eine Frage der Zeit. "Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern!" Die dann wenigen Tage bis zur Hinrichtung sind bekannt. Nach dem Krieg dauerte es, bis die ermordeten Widerständler zu ihrer verdienten posthumen Ehre kamen, personelle Kontinuitäten an entscheidenden Stellen der öffentlichen Verwaltung sowie in politischen Ämtern verhinderten dies lange Zeit.         

 

Zoske stellt, geprägt über ein tief geistliches Elternhaus, die geistige Entwicklung von Sophie in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Erst als Studentin wurde sie nun sehenden Auges mit den Verbrechen des Krieges und der Judenvernichtung konfrontiert und ließ sie zur Widerständlerin werden. Im Gegensatz zu anderen Autoren erschließt Zoske sich aus den unzähligen Quellen, aus dem Lesestoff von Sophie, deren Gedankenwelt und ihren intellektuellen Auseinandersetzungen. Das macht das ´Buch auch so besonders und hebt es aus anderen Publikationen heraus. Seinem eigenen, Anspruch, die Mythen über Sophie historisch kritisch zu hinterfragen, herauszuarbeiten, was ist wahr und was diente nur der Legendenbildung, und damit ihre Entwicklung, ihr Tun und Handeln als Mädchen und junge Frau, aber vor allem ihre Gedanken und damit ihr Wirken für die Nachwelt auf ein neues Fundament zu stellen wird er vollends gerecht. Dazu zählt eben auch, dass ihr Bruder Hans der führende Kopf der „Weißen Rose“ war und Sophie quasi erst postum mit dem Stempel „jung-hübsch—intelligent-weiblich“ dazu erkoren wurde.

 

Hans Scholl hat die „Weiße Rose“ auf den Weg gebracht, seine Schwester hat sie dann mit Leidenschaft zur DER Widerstandsgruppe gemacht. Bei Beiden waren Glauben und Handeln schicksalshaft miteinander verknüpft. Der Glaube, so Zoske, war der Dreh- und Angelpunkt allen Handelns für Sophie, ohne ihn hätte sie den Weg in den Widerstand nicht gefunden. Zoske bezeichnet den Glauben in einem späteren Interview sogar als essentiell für den Widerstand. Sophie hat sich mit ihren Gedanken und ihrem Handeln in Gottes Hand begeben und ihre Aussagen in den Vernehmungen nach der Festnahme waren dann auch vielmehr ein Bekennen zu ihrem religiös bestimmten Antrieb zum Handeln als alles andere – dies war, so Zoske ein langer und teils schmerzhafter Entwicklungsprozess. Im Gegensatz zu Ostdeutschland dauerte es im Nachkriegs-Westen bis aus den vermeintlichen Verrätern Vorbilder, ja Helden wurden. Die Geschwister Scholl waren prinzipiell ganz normale Menschen wie andere auch, aber trotzdem in einem gewissen Sinne bemerkenswerte Einzelfälle. Ihre Aktionen waren sicherlich sehr mutig. Aber Helden gesteht man zu, mutig etwas zu tun, was andere nie machen würden. Da sie aber eigentlich keine Helden waren, hätten wesentlich mehr Leute den Weg in den Widerstand suchen müssen. Aber viele wurden stattdessen zum Täter ...

 

Fazit: Hervorragende Biografie, die Fakten darlegt und Fiktionen widerlegt.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

 © 2021 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Propyläen Verlag

 

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