Dass Geschichte am besten durch Zeitzeugen erzählt werden kann, habe ich in früheren Rezensionen bereits oftmals unterstrichen. Absolut uneingeschränkt trifft diese Aussage auf das kompakte Buch von Wolfgang Leonhard über den Tyrannen Stalin zu.
Leonhard, einerseits als Historiker, aber vor allem als Opfer von der Thematik persönlich betroffen, vollzieht in Anlehnung an Haffners Anmerkungen zu Hitler seine persönliche Abrechnung mit Stalin - und dies in einer perfekten Symbiose von persönlichen und damit subjektiven Erfahrungen und einem distanzierten, somit objektiven Blick von außen. 1921 in Wien geboren, floh Leonhard Anfang der 30er Jahre vor dem Nationalsozialismus über Schweden nach Moskau. Er verlor beide Eltern durch die Terrorherrschaft Stalins, seine Mutter für mehr als 10 Jahre in der Lagerhaft, sein Vater wurde, wie er erst kürzlich erfuhr, 1938 von Stalin erschossen. Nachdem er 28 Jahre den "Mechanismus einer Diktatur" am eigenen Leib erlebte, flüchtete er 1949 in die Demokratie, um ohne der ständigen Angst vor Verfolgung und Repressalien die Verhältnisse kritisch beobachten und untersuchen zu können.
Innerer Antrieb für das Buch waren die in letzter Zeit vermehrt auftretenden glorifizierenden Reminiszenzen an den Diktator. Den historischen Fakten Stimme und Bilder gebend, beschreibt er ungeschminkt, wie sehr er dieser neuen Faszination misstraut und warnt nachhaltig vor der Verherrlichung eines Verbrechers. Im Kern geht es ihm um eine Veranschaulichung des Wesens des Diktators, vor allem aber um eine Entmythologisierung der Selbstverherrlichung Stalins als den Helden der bolschewistischen Revolution.
Nach dem Tod Lenins entstand für kurze Zeit ein Machtvakuum in der sozialrevolutionären Bewegung, das jedoch durch eine ausgeklügelte "Machtübernahme" Stalins schnell geschlossen wurde. Als Meister der Theatralik inszenierte er im wahrsten Sinne des Wortes den Tod seines "verhassten" Genossen und beschwor in einer beeindruckenden Trauerrede die Kraft der kommunistischen Bewegung. Während andere noch trauerten und zauderten, ergriff er die Initiative und traf den Nerv der niedergeschlagenen Bevölkerung. Stalin zementierte so innerhalb kürzester Zeit seinen Aufstieg zum uneingeschränkten Machthaber des Riesenreiches - und das, obwohl er aus der näheren Entourage Lenins als der eigentlich unbeliebteste und am wenigsten charismatischste Genosse galt und dem Leonhard in der Phase der Revolution eine schlichte Abwesenheit attestierte. An der Macht, ging Stalin schonungslos dazu über seine Konkurrenten nach und nach aus dem Weg zu räumen. Von den 21 Bolschewiki des Zentralkomitees von 1917 blieb nur noch einer übrig - Stalin. Indem er im Gegensatz zu Trotzkis schwer verständlichem und verklausuliertem Postulat einer Weltrevolution realistische Ziele vorgab, z. B. den "Sozialismus im Lande", erreichte er schnell die Bevölkerung.
Innerhalb von fünf Jahren wurde Stalin der unumschränkte Herrscher, den nur noch eine Heerschar willfähriger Lakaien in einem undurchsichtigen hierarchischen System umgab - eine bürokratische Diktatur bei der Unterdrückung und Terror ein fester Bestandteil waren. Trotz willkürlicher Verhaftungen, die Hunderttausende aus dem öffentlichen Leben rissen, ging das Leben unverändert weiter, das Geschehene und Gesehene wurde schlichtweg gelöscht. Wie heute, so Leonhard, erinnerte man sich nur an das, woran man sich auch erinnern wollte. Der "Auftraggeber" Stalin festigte dagegen weiter sein Ansehen, auch weil es ihm gelang, Positives auf seinen Führungsstil zurückzuführen und unpopuläre Entscheidungen auf andere abzuwälzen. Sein Gespür für die Stimmungen ließ ihn ohne größeren Widerstand den Bruch von der marxistischen Theorie vollziehen, indem er den Leuten das Gefühl einer kapitalistischen Umkreisung vermittelte, konnte er seine Repressalien als notwendig verkaufen.
Dass das Schicksal der Sowjetunion uneingeschränkt in den Händen Stalins lag zeigte sich besonders beim Angriff Hitlers auf die Sowjetunion. Auch wenn es Stalin nie zugab ist es heute unumstritten, dass es seine alleinige Entscheidung war, jegliche Angriffstendenzen der Deutschen Wehrmacht zu verleugnen mit der Konsequenz, dass die "Operation Barbarossa" die Rote Armee völlig unvorbereitet treffen sollte. Die Sowjetunion war mit Beginn des Zweiten Weltkrieges auf einen größeren Konflikt nicht vorbereitet. Gerade durch die mörderische Terrorwelle in der Armee ging fast die gesamte militärische Expertise und Erfahrung verloren. So war Stalin sichtlich erleichtert, als man am 23. August 1939 den "Hitler-Stalin-Pakt" unterzeichnen konnte. Für Leonhard löste dieser laut dem britischen Historiker Kershaw „infamsten diplomatischen Coup in der Geschichte“ schlichtweg nur einen Schockzustand aus. Nachdem das Fiasko in Finnland (über eine Million Soldaten gelang es nicht, die kleinen finnischen Streitkräfte zu besiegen) eine schlecht organisierte, ausgerüstete und vor allem geführte Rote Armee offenbarte, war man schon aus rein selbsterhaltenden Motiven an einem guten Verhältnis zu Hitler Deutschland interessiert. Ein möglicher Konflikt musste mit allen Mitteln hinausgezögert werden. Als 1941 ein deutscher Angriff virulent wurde, ignorierte Stalin alle Warnungen, bestärkt durch falsche Lagebeurteilungen der ihm treu ergebenen Geheimdienste. Stalin schenkte nur seiner Einschätzung Glauben, er missbilligte jegliche anders lautende Geheimdienstinformation auch aus westlichen Staaten. Die Folgen sind bekannt. Innerhalb kürzester Zeit stand die Deutsche Wehrmacht vor Moskau und erst im Dezember 1941 gelang eine erste, aber äußerst effektive Gegenoffensive. Indem Stalin Sozialismus und Kommunismus durch Vaterland und Heimat ersetzte und somit den "Großen Vaterländischen Krieg" ausrief, mobilisierte er im letzten Moment alle verfügbaren Reserven aus einer kriegsmüden Bevölkerung. Auch überließ er nun seinen Generälen die Kriegsführung, ganz im Gegensatz zu dem selbsternannten "Größten Feldherrn aller Zeiten" (GröFaZ), der sein eigenes Volk ins Verderben führte. Mit dem Einmarsch in Berlin und der Kapitulation Hitler Deutschlands war Stalin am Höhepunkt seiner Macht angekommen. Allerdings wären Millionen von Menschenleben zu retten gewesen, hätte nicht die Personalisierung der Verantwortung auf Stalin zu einem der größten Irrtümer der Geschichte geführt - die (vorsätzliche) Ignorierung des deutschen Angriffs noch bis einen Tag vor Angriffsbeginn.
Die nach dem Krieg vollzogene Teilung des besiegten Deutschlands in eine westlich orientierte Demokratie und in die kommunistisch geprägte DDR ist hinlänglich bekannt. In kürzester Zeit gelang es Stalin, sein auf Staatspression und gegenseitiger Bespitzelung aufgebautes Staatssystem der UdSSR auf die DDR überzustülpen. Nach seinem Tod 1953 ging es erstaunlich schnell, bis man sich in seiner Heimat von seinen Entscheidungen distanzierte und erste Veränderungen griffen. Alle Pläne für ein poststalinistisches System lagen bereits in den Schubladen parat, ihn dagegen wollte man so schnell als möglich ad acta legen. Auch wenn es niemand öffentlich zugeben würde, der Tod Stalins ließ das Land aufatmen - nur in der DDR überlebte sein System bis 1989.
Das vorliegende Buch kann natürlich schon allein aufgrund seiner nur knapp 190 Seiten das Studium einer umfassenden Biografie über Stalin nicht ersetzen. Aber es stellt eine unverzichtbare und zweckmäßige Ergänzung zum besseren Verständnis der Handlungstriebe des Tyrannen sowie seiner beeinflussenden Faktoren dar. Zu Recht kritisiert Leonhard die jetzige russische Administration, die der unter Gorbatschow und Jelzin wiederbegonnenen Aufarbeitung des Regimes Stalins standhaft widersteht. Seinem letzten Satz „Solange die Verbrechen Stalins nicht als Teil der Geschichte anerkannt werden, ist der Weg zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft in Russland möglich“ ist nichts mehr hinzuzufügen.
Fazit: Leonhard ist ein Meister darin, die Geschichte Stalins nicht auf eine Ansammlung von Daten und Fakten zu beschränken, sondern dem Leser in nahezu beängstigender Weise die äußeren Umstände, den Antrieb sowie die Motivation des Tyrannen und die Gefühle der Betroffenen und damit den Zustand der kommunistischen Sowjetunion ganzheitlich vor Augen zu führen. Ein wundervolles Buch über eine wahrlich grausame Gestalt.
Andreas Pickel
© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth