Der Klassen-Ordinarius des Frankfurter Gymnasiums erklärte dem damals 15-jährigen Egon, dass nur einer von beiden weiterhin die Klasse betreten könne; der Rektor entschied sich zum völligen Unverständnis seiner Anverwandten für den Lehrer. Als Begründung gab es nur folgende Worte: "Es ist nichts Bestimmtes gegen ihn zu monieren, aber er ist ein Lausbub."
Und das ist Egon Friedell zum Glück für uns alle, sein ganzes Leben lang geblieben! Es folgte eine schulische Odyssee durch verschiedene Ausbildungsstätten in Österreich und Deutschland, ehe es dem Halbwaisen (der Vater, ein Textilfabrikant verstarb sehr früh, die Mutter brannte schon vorher mit seinem Sprachlehrer durch) im vierten und letzten Anlauf gelang, am Königlich-Preußischen Gymnasium in Bad Hersfeld das Abitur abzulegen.
Egon Friedmann - erst 1916 wurde sein schriftstellerisches Pseudonym Friedell auch aufgrund seiner überragenden Dissertation offiziell anerkannt - war ein echtes Wiener Original und Enfant terrible. Er war ungeheuer vielseitig und trug viele Masken: die des wortgewandten, geistreichen Kabarettisten, des Kulturphilosophen, des Feuilletonisten, des Kritikers, des Dichters, aber am liebsten die des Schauspielers und Dramaturgen. Er war gebildet, witzig, schlagfertig, komisch und rührend. Das Wiener Universalgenie war ein lebendes Paradoxon. Er konnte ebenso großzügig wie knausrig, bescheiden wie ruhmsüchtig und apathisch wie hitzköpfig sein.
Der eingefleischte Junggeselle arbeitete nach einem genauen Tagesplan, wenn er nicht gerade eine Zechtour absolvierte oder sich der Muße hingab. Friedell trieb gerne Schabernack, schoss auf der Bühne und mit seiner spitzen Feder in alle Richtungen scharfe Pointen ab, liebte das Publikum und war doch gerne allein und ungestört. Friedell kehrte nach Wien zurück, erkämpfte sich in einem Rechtsstreit seinen Anteil am Vermögen des Vaters, von dem er bequem leben konnte und belegte an der Universität die Fächer Philosophie und Germanistik. Das Studium beendete er in der kürzest möglichen Zeit und schon vor dem Erwerb des Doktortitels schloss sich Egon Friedell jener Runde von Literaten an, die im berühmten Café Central täglich beisammen saß, um im geselligen Kreis Gedanken auszutauschen und über Gott und die Welt zu philosophieren. Und hier schloss er auch die ihn prägenden Freundschaften mit dem dichtenden Bohemien und Lebenskünstler Peter Altenberg, dem ebenso genialen Alfred Polgar und etwas später auch mit Karl Kraus. Zusammen mit Alfred Polgar schrieb er unter anderem auch den Einakter Goethe, mit dem er Zeit seines Lebens Triumphe feiern sollte und auch heute noch zum festen Inventar auf dem Spielplan vor allem österreichischer Bühnen gehört.
In diesem Lesebuch hat Diogenes vieles hinein gepackt: philosophische Miniaturen und eigenwillige Prosa voller Ironie genauso wie biographische Betrachtungen zu wichtigen Zeitgenossen und großen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Doch auch Lebensweisheiten, mal ernst, mal fröhlich und Anekdoten über Freunde und Wegbegleiter sind Bestandteil des Buches. Und der gute alte Wiener Schmäh, den er wie kaum ein anderer zu verkörpern verstand, kommt ebenfalls nicht zu kurz Als sich Egon Friedell am 16. März 1938, kurz nach der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland vor zwei SA-Leuten in den Tod stürzte, wurde es kaum wahrgenommen; Menschen vom Schlage eines Egon Friedell waren plötzlich unerwünscht und gerieten fast in Vergessenheit.
Fazit: Dieser wunderbare Sammelband gibt uns Gelegenheit, diesen wunderbaren Kunsthistoriker, Autor, Kritiker und Menschenkenner wieder zu entdecken. Nur zu gern lassen wir uns jedes Wort auf der Zunge zergehen. Eine Reduzierung auf die in die einzelnen Geschichten und Miniaturen eingebetteten Pointen und Aphorismen täten diesem Werk aber gewiss unrecht, zu lange wirken diese Texte in uns nach.
Wolfgang Gonsch
© 2010 Wolfgang Gonsch, Harald Kloth