Susanne Koelbl / Olaf Ihlau

Geliebtes, dunkles Land

Menschen und Mächte in Afghanistan

 

Wer als politisch Interessierter die Diskussionen der letzten Wochen über den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan verfolgt, um dort „die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch zu verteidigen“ (Ex-Verteidigungsminister Peter Struck), bekommt von der Politik ein Meinungsbild vorgesetzt, welches mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beiträgt. Von mehr militärischen Mitteln bis zum kompletten Abzug deutscher Streitkräfte, von der Forderung nach mehr finanzieller und ziviler Unterstützung für den Wiederaufbau bis zur Meinung, Afghanistan sei ein hoffnungsloses Land reicht das Spektrum. Auf der anderen Seite publiziert Osama Bin Laden in unregelmäßigen Abständen Videos mit der Botschaft, den westlichen Einfluss in Afghanistan ein für alle Mal zu vertreiben und den "wahren Islam" zu etablieren. Aber wie stellt sich nun wirklich die Lage dar? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, schenkt man am besten denjenigen das Vertrauen, die das Land seit Jahrzehnten aus persönlichen Erfahrungen kennen und aus der Historie kommend aktuelle Entwicklungen am Besten einzuordnen wissen. Dazu zählt ohne Zweifel das eben erschienene Buch Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan der beiden Autoren Susanne Koelbl und Olaf Ihlau.

 

Sieben Jahre nach dem Angriff einer US geführten „Coalition of the Willing“ auf Afghanistan und in der Folge dem größten Einsatz der NATO seit ihrer Gründung (International Security Assistance Force/ISAF) ist aufgrund der prekären Sicherheitslage eine Rückkehr zur Normalität in dem kriegsgebeutelten Land weiter nicht erkennbar. Auch wenn aktuellen Umfragen zur Folge die afghanische Bevölkerung fest an eine bessere Zukunft glaubt, zeigen im Gegenteil, gerade die stark steigende Zahl an Selbstmordanschläge und Guerillakämpfe der Taliban in 2007 eine weitere Radikalisierung der Situation.

 

„Wenn Gott eine Nation bestrafen will, dann lässt er sie in Afghanistan einfallen“, so ein asiatischer Spruch, in der heutigen Medienwelt auch „Hindukusch-Falle“ genannt. Warum das so ist, wird durch Ihlau und Koelbl nachdrücklich beschrieben. Obwohl das Buch nur cirka 300 Seiten umfasst, werden keine wesentlichen Handlungsfelder ausgeklammert. Den Beschreibungen der beiden Autoren folgend ist das „unregierbare Land“ (Alt-Kanzler Helmut Schmidt) eigentlich landschaftlich sehr reizvoll, beherbergt stolze Menschen und hat eine faszinierende Geschichte. Gerade vor dem Bürgerkrieg und der Übernahme der Macht durch die Taliban, war das Land ein tolerantes muslimisches Land. Trotzdem versinnbildlicht die Mediendarstellung gerade Afghanistan als sogenannten „failed state„. Diese divergierende Situation des Landes und seine Geschichte werden im überwiegenden Teil des Buches anhand seiner wesentlichsten Akteure beschrieben. Die Vernetzung von Historie mit erlebten Eindrücken, Anekdoten und persönlichen Gesprächen sowie einer jeweils abschnittsweise klaren Bewertung heben das Buch aus anderen Reportagen über Afghanistan hervor. Man lebt und leidet quasi mit den Autoren auf der immer fortwährenden Suche nach den Gründen die zur heutigen Situation führten. So kommt der zumindest halbwegs legitimiert gewählte Präsident Hamid Karzai ebenso zu Wort wie Regionalfürsten und Warlords, wie zum Beispiel der berühmt berüchtigte Usbeken-General Abdul Rashid Dostum und Gulbuddin Hekmatjar (Parole: „Die Schlacht geht gegen die Amerikaner. Beenden wir deren Präsenz, brechen auch ihre Helfer zusammen“) oder auch der Taliban-Führer und „Befehlshaber der Gläubigen“ Mullah Omar. Fehlen darf natürlich auch nicht ein Kapitel über den Al-Qaida Gründer Osama Bin Laden.

 

Besonders spannend sind aus meiner Sicht die Darlegungen des Einflusses Pakistan auf die Zukunft Afghanistans. Zwar ist auch aus den Medien bekannt, wie wenig Pakistan dem Ansinnen der USA nachkommt, aktiv gegen die Taliban in ihrem Land nachzugehen, aber die Beschreibungen der Zustände in Quetta (Rückzugsgebiet / Ausbildungslager der Taliban in Pakistan), die Art und Weise wie personell, materiell und finanziell die instabile Lage in Afghanistan aktiv unterstützt (also genau das Gegenteil von dem, wie es die westlichen Staaten und Afghanistan selbst gerne hätten) überraschen sichtlich. Auch die dieses Jahr festgenommenen potentiellen Al-Qaida Attentäter aus dem Sauerland wurden in Pakistan militärisch ausgebildet. Auch wenn der Präsident General Musharraf anderes behauptet, Pakistan gilt heute als die Brutstätte des radikalen Islamismus und ist das Rückzugsgebiet der Taliban und Al-Qaida Kämpfer. In den dortigen Koranschulen - weit über 17.000 existieren davon allein in Pakistan - werden bereits Jugendliche auf den selbstmörderischen Kampf indoktriniert. Eine Befugnis, auf deren Lerninhalte Einfluss zu nehmen, besitzt keine der säkularen Institutionen. „Der Westen hat den Islam angegriffen, der Westen ist mir seinen Hightech-Waffen überlegen, deshalb muss ein guter Muslim, der seinen Glauben verteidigt, auch bereit sein, im Kampf zu töten und zu sterben“, so ein Koranschullehrer. Auch die Worte von Osama Bin Laden, „Wir lieben den Tod. Die Vereinigten Staaten lieben das Leben. Das ist der Unterschied zwischen uns“, macht die selbstmörderische Denkweise der Taliban deutlich.

 

Die Beschreibungen und Prognosen der ökonomischen und soziologischen (hier insbesondere die Rolle der Frau) Situation geben ebenso wenig Anlass zur Hoffung. Seit Jahrhunderten ist die Rolle der Frau unverändert. Hunderte von Afghaninnen nehmen sich pro Jahr aufgrund der Perspektivlosigkeit und menschenunwürdigen Demütigungen das Leben. Eine Änderung ist nicht im Sinne der Männer. So wird ein Stammesführer wie folgt zitiert: „Irgendwann wenn Afghanistan einmal Wohlhaben und sicher ist, können die Frauen vielleicht auch erwerbstätig sein. Aber warum sollen Sie?“ - ohne Worte.

 

Die im Land vorherrschende Korruption bis in die höchsten Regierungskreisen, ein florierender Drogenhandel (Afghanistan ist der weltweit größte Heroin und Opium-Produzent), unzureichende Infrastruktur, regionale Wege- und Schutzzölle usw. lassen einen vermuten, warum die Zig-Milliarden an Krediten und Spenden zu keiner spürbaren Verbesserung führen. Alles illegale Aktivitäten, aber nach dem Motto, „wo kein Kläger, da kein Richter“ gehen die Profiteure weiter unbehelligt ihren Geschäften nach. Dies ist auch das Dilemma der ISAF. Ohne den Leuten konkrete Alternativen bieten zu können (müsste über die jeweiligen Ministerien für wirtschaftliche Entwicklung laufen), wäre es nahezu selbstmörderisch, den Leuten ihre einzige Einnahmequelle, den Drogenanbau, wegzunehmen. Aber wenn man allein die Gelder, die der Drogenkonsum in der westlichen Welt an Kosten für das Gesundheitswesen etc. verursachen nach Afghanistan geben würde, wäre schon viel geholfen.

 

Wie die beiden Autoren darstellen, genießt Deutschland auch heute noch hohes Ansehen in der afghanischen Bevölkerung. Der Ansatz der vernetzten Sicherheit, also die Verbindung aller militärischen und nicht-militärischen Aspekte für die Unterstützung Afghanistans mit dem Ziel, Afghanistan nicht wieder Ausbildungszentrum für Terroristen werden zu lassen findet bei der Mehrheit der Bevölkerung Akzeptanz. Ja, wenn nicht immer wieder die Kollateralschäden der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) den Unmut von Teilen der Bevölkerung auch gegen die Bundeswehr schüren würden. Mit der Verlängerung des Bundestagsmandates am 12. Oktober und für die Beteiligung am Anti-Terror Einsatz OEF setzte Deutschland jedoch ein deutliches Zeichen.

 

Im letzten Kapitel legen die Autoren dar, was sich an der Afghanistan-Politik der westlichen Staatenwelt ändern muss, damit das Land eine Zukunft hat, ohne noch weiter in anarchische Strukturen zurückzufallen oder gar ein erneuter Taliban-Staat ausgerufen wird. Auch nach sechs Jahren ist es nicht gelungen, ein funktionierendes Staatswesen mit einem funktionierenden Polizeiapparat aufzubauen. Der Regierung Karzais fehlt es schlichtweg an dem notwendigen Durchsetzungsvermögen gegenüber den Regionalfürsten. Gerade der schnelle Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte wäre der entscheidende Hebel für die Regierung für eine bessere Zukunft. Aber solange die Soldaten und Polizisten bei Einsatz ihres Lebens weit weniger verdienen, als die Warlords ihren Söldnern bezahlen können, erscheint das Vorhaben nur schwer zu erreichen. Die Fortschritte beim Wiederaufbau sind entscheidend auch auf die politische Entwicklung Afghanistans: Eine gute Verkehrsinfrastruktur, eine funktionierende Strom-/Wasser-/Heizölversorgung, Zugang zu Bildung, Schaffung von Arbeitsplätze, besserer Zugang von Frauen zu politischen Ämtern, alternative Formen der Landwirtschaft zum Drogenanbau etc. würde die Sicherheitslage um ein Vielfaches verbessern. Und nur über Sicherheit ist auch Wohlstand möglich. Dazu ist auch weiterhin ein Konzept notwendig, um einen sozialen Ausgleich zischen Land- und Stadtbevölkerung zu schaffen. Gerade am Land verpuffen die Verpflichtungen der westlichen Staaten schnell in unkoordinierten Maßnahmen und schwächen so die notwendige Unterstützung aus der Bevölkerung. Zusammenfassend geben die beiden Autoren ein klares Plädoyer für eine nicht nachzulassende Unterstützung Afghanistans an.

 

Auch die westlichen Staaten müssen ihre Gesamtstrategie ändern und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der klassischen Bekämpfung der Aufständischen mit militärischen Mitteln und Maßnahmen zum „Nation Building“ finden. Man muss endlich Wegkommen vom hären Ziel einer weltweiten demokratischen Vision nach westlichem Vorbild. Der Westen hat sicherlich das Recht, seine Form der Demokratie als die einzig Richtige anzuerkennen. Er kann dies auch auf friedliche Weise proklamieren und verbreiten sowie auf das Grundprinzip der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, pochen. Aber historisch gewachsene kulturelle Grundlagen mit Gewalt und einem Überlegenheitsgehabe verändern zu wollen, dazu hat kein Staat oder ein Staatenkonglomerat ein Recht. Insbesondere, wenn man wie die USA (siehe Abu Ghraib, Guantanamo) eine „besonderes“ Demokratieverständnis hat. Die Afghanen, so die Autoren, haben das legitime Recht, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

 

Die Darstellungen der Autoren zeugen von großer Kenntnis von Land und Leute in einer selten beschriebenen Tiefe. Das Buch fesselt und überzeugt gleichermaßen aufgrund der Unmengen an persönlichen Eindrücken. Den beiden Autoren gelang es in den letzten Jahren mit allen wesentlichen Akteuren an allen wesentlichen Orten, selbst in den Tunnelsystemen von Tora Bora durften sie mit Taliban reden, persönliche Gespräche zu führen und können so aus erster Hand von der Situation der einfachen Leute bis hin zur Gedankenwelt der Handlungsträger berichten. Selbst NATO-Truppen begleiteten sie im umkämpften Süden von Afghanistan, um auch deren tägliche Herausforderungen mit einfließen zu lassen. Die Beschreibungen der jeweiligen Situation an den unterschiedlichsten geographischen Orten werden zweckmäßig verknüpft und geben so ein umfassendes Bild über die Geschichte und der komplexen aktuellen Lage in Afghanistan, ohne sich auf Hunderten von Seiten im „klein-klein“ zu verfangen.

 

Fazit: Ein Buch, dessen scharfe Analyse die Widersprüchlichkeit einerseits der westlichen Intervention und andererseits der afghanischen heterogenen Gesellschaft aufzeigt und für unsere politischen Entscheidungsträger Pflichtlektüre sein sollte.

 

Andreas Pickel

5 Sterne
5 von 5

© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth