Andreas Walter / Viktor Winkler

Goethe Faust Remix

(Buch und CD)

 

Faust verschreibt sich dem Teufel und verliebt sich ins Gretchen, das er mit dessen Hilfe verführt. Darauf beschränkt sich die Handlung des berühmten Goethe’schen Stückes, welches überdies, zum Leidwesen mancher Leser, die zentralen Stellen ausspart. Das Geschehen allerdings ist sekundär, stellt die Tragödie doch eine Deponie bildungsbürgerlicher Wendungen dar, einen Zitatsteinbruch allererster Güte, aus dem sich die Nachfahren Fausts bedienen. Von dort nehmen sie ihre Weisheit, um sie ihren Schülern einzuflößen, denen sie besser bekommt als den Patienten die Arzneien, die ihnen Faust und sein Vater in großangelegten Experimenten verabreichten. Während aber, anders als jene beklagenswerten Opfer übler Gifte, die Teilnehmer germanistischer Seminare leider vom Dahinwelken weit entfernt sind, nehmen dieselben möglicherweise geistige Schäden mit nach Haus, die sie noch lange getrost pflegen werden, denn sie sind schwarz auf weiß fixiert.

 

Eine kürzlich erschienene Neuedition des Faust, besorgt von Andreas Walter und Viktor Winkler, will solchen Fällen vorbeugen. Die Herausgeber vertreten die Ansicht, daß man des Beistands von Fachleuten, das sind „Klugscheißer, Deutschlehrer und Literaturprofessoren“, nicht bedürfe, um den Faust toll finden zu können. Denn wenn das Buch wirklich so vorzüglich sei, wie sie alle behaupten, müsse sich seine Klasse bereits dann enthüllen, „wenn Sie es einfach so in die Hand nehmen und lesen“. Das ist gar nicht so schwer. Zwar vergeudet das gedankenhudelnde Geschwätz der Nachworte, ohne die keine Ausgabe eines Klassikers möglich zu sein scheint, eine Menge Papier, aber man braucht diese Seiten nicht aufzuschlagen. Ebensowenig den Anmerkungsteil, dessen Erklärungen altertümlicher Wörter und unverständlich gewordener Anspielungen der Lektüre durchaus zustattenkommen können.

 

Auch wenn die Neueditoren zurecht beteuern, daß der Leser nichts über die Kulturgeschichte des Spätmittelalters wissen muß, weil jeder helle Leser den ungefähren Sinn dunkler Texte treffen kann, versäumt es der rote Leu nicht, welcher der Lilie vermählt wird, ein Interesse an der Natur dieser Wesen zu wecken. Die Herausgeber selbst kommen schließlich nicht umhin, zu einigen der Gestalten, die sich auf der Walpurgisnacht herumtummeln, Anmerkungen zu machen; besonders schien ihnen Hennings Musaget solcher bedürftig, und symptomatischerweise der Proktophantasmist, weil es um einen Arsch geht. Der Wandel der Zeiten aber zwingt die Herausgeber gar, ihre Meinung, wie toll der Faust noch „200 Jahre später“ sei, partiell zu revidieren.

 

Die Szene am Brunnen zwischen Lieschen und Gretchen ist „eine langweilige Szene“. Unverheiratete Mädchen, die ein Kind bekamen, wurden damals sozial geächtet; dieses Schicksal steht dem Gretchen auch bevor. „Wir können das nur noch belächeln.“ Heute beschließt der Sex die ernsten Geschichten, während sie früher mit ihm erst begannen, ohne ihn dargestellt zu haben. „Der Geschlechtsverkehr ist also zwischen diese und die vorherige Szene gefallen, verschwunden. Aber das hat ihn zugleich ein bisschen banal gemacht, finden Sie nicht?“ Gewiß, er macht uns keinen Spaß. Der Augenblick, zu dem wir sagen könnten, verweile doch, du bist so schön, der ist uns nicht beschert. Erneut werden die Herausgeber ein Opfer kultureller Umwälzungen: Der Genuß ist keine Frucht mehr, die fault, eh’ man sie bricht, und um ihn zu erlangen, kann man des Teufels entbehren. „In Goethes Stück will einer nicht mehr leben, will sich umbringen. Und es ist der Teufel, der ihm zeigen soll und will, dass das Leben lebenswert ist. Goethe war ein Zyniker ...“, weil es gerade der Teufel unternimmt, einen Depressiven zu therapieren? Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrundegeht, und Faust ist bezüglich dessen, was ihm der Teufel bieten könnte, derselben Meinung. Aber sobald er Geschmack am Faulbett und das Leben lebenswert findet, darf ihn der Teufel holen. Lesern, die nicht nur den „Faust verstehen“, sondern „dabei –vor allem- viel Spaß haben“ sollen, dürfte die Pointe, daß ausgerechnet der Teufel dem Lebensüberdruß Abhilfe schafft, natürlich mehr zusagen als der schmerzlichste Genuß und der erquickende Verdruß, denen Faust sich überantwortet.

 

Derart tiefgreifende Betrachtungen stellen die Herausgeber allerdings selten an; meistens beschränken sie sich darauf, den Leser mit kurzen Zwischenrufen anzufeuern. „Sie wissen, dass das ironisch war? Gut. – Nicht verstanden? – Aha! – Sie auch nicht? Macht nichts. – Ja! Das ist ein Kalauer. – Was sagen Sie jetzt? – Eine wichtige Stelle. – Überlesen Sie auch diese Stelle nicht. – Schön, nicht? – Ist Ihnen klar, was Mephisto hier kritisiert? – Und? Ich weiß. – Kennen Sie das Gefühl? – Das ist eine Metapher. Wirklich. – Ist dieser letzte Satz nicht stark? – Das ist doch ein ganz aktuelles Problem.“ So ist es. Denn diese Anmerkungen stehen nicht in einem gesonderten Buchabschnitt, sondern mitten im Text, als wären sie die Krücken, ohne die das Lesen keinen Spaß macht. „Die Anmerkungen wollen Ihnen den Text nicht erklären. Sie wollen das Gegenteil. Sie wollen Sie ermutigen, sich selbst zu fragen, was Sie denken.“ Ja, „das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.“

 

Wenngleich nicht auszuschließen ist, daß die Anmerkungen, welche den Text verwirren sollen, manchem Leser auf die Sprünge helfen, ist das ganze Projekt wohl eher eine öffentlichkeitsrelationierte Angelegenheit der Business-Affairs, deren Direktor Andreas Walter in einem Frankfurter Musiklabel ist. Wahrscheinlich ist er der Initiator dafür, daß dem Buch eine CD beiliegt, auf der Songs von „nationalen und internationalen Spitzenkünstlern“ zu hören sind, die immerhin für Stimmung sorgen; dagegen sind die Annotationen vermutlich größtenteils auf die Rechnung von Viktor Winkler zu setzen, „gegenwärtig Doktorand und davor Stipendiat der Studienstiftung“.

 

Das Buch, das beide „gemischt“ haben wollen, nennen sie einen Remix. Ein Remix ist die Neuarrangierung eines Musikstücks, wobei die Grundzüge belassen werden, aber die feinere Ausgestaltung eine andere Tendenz erfährt; unschwer läßt sich das Lied wiedererkennen, aber es klingt anders. Somit dürfte jede der vielfältigen Behandlungen des Stoffs, welche die Literaturgeschichte verzeichnet, weit eher den Titel eines Remixes verdienen, als dieser getreue, nur um zudringliche Glossen ergänzte Nachdruck des Originaltextes. Höchstens könnte man der Bezeichnung eine Berechtigung zuerkennen, wenn die Herausgeber ihre Kommentare als nunmehrigen integralen Bestandteil des Werks verstanden wissen wollen; jedoch würde sich dann ein Widerspruch zu ihrer offenbarten Absicht unausweichlich ergeben. Wenn das Buch, wenn „Goethes Faust wirklich so toll ist, wie alle sagen, dann muss es auch toll sein, wenn Sie es einfach so in die Hand nehmen und lesen“. Davon ist jedoch bei einem dermaßen remixten Faust abzuraten. Bei der Lektüre soll sich freilich der Spaß nur dann einstellen, „wenn Sie alles vergessen“. Bis auf die Herausgeber. Sie bieten dem Leser zuletzt das Du und mahnen ihn: „Vergiss uns nicht.“ Vielleicht wäre es umgekehrt besser.

Trackliste der CD:

  1. Moses Pelham: Geteiltes Leid
  2. The Prodigy: Smack my bitch up
  3. Ci-Devant Genius der Zeit: Musaget
  4. Deichkind: Remmidemmi
  5. Moby: Go
  6. Alphaville: Forever young
  7. J-Luv: Weil Du mich liebst? (Bayz Benzon Mixdown)
  8. Geist der sich erst bildet: Faust 1
  9. Böhse Onkelz: Nichts ist für die Ewigkeit
  10. Neugieriger Reisender: Remix
  11. Glashaus: Wenn das Liebe ist
  12. A. R. Rahman: Mumbai theme tune

Fazit: Vermixt.

 

Alwin Bauer

2 Sterne
2 von 5

© 2007 Alwin Bauer, Harald Kloth