München ; btb ; 2005. - ISBN: 3-442-73282-4
Die Münchner Autorin, die auch als Lyrikerin bekannt ist, nimmt sich in ihrem Roman "Mitgift" eines der größten Tabuthemen unserer Gesellschaft an: des Hermaphroditismus. Wie eine Familie in einer deutschen Provinzstadt zwischen den 60er und 90er Jahren damit umgeht, schildert Ulrike Draesner in all seinen Auswirkungen auf die Familienmitglieder. Doch spielen in der 377 Seiten starken Geschichte auch viele andere Themen eine Rolle, so etwa die Körperwahrnehmung der Hauptfigur Aloe, die bis zur Magersucht führt, Familie und Partnerschaft, Schwangerschaft und Fehlgeburt.
Aloe ist die ältere Schwester von Anita, die als Zwitter auf die Welt kam - mit einem penisartigen Fortsatz zwischen den Beinen. Die Eltern unterziehen das Kind zahlreicher Operationen und Hormonbehandlungen, bis aus ihm ein äußerlich normales Mädchen geworden ist. Aloe gegenüber verheimlichen sie lange, was mit Anita los ist, so dass diese kein Vertrauen zu ihren Eltern entwickeln kann. Anita jedoch hasst und bewundert sie zugleich - weil sie dieses großes Geheimnis birgt, weil sie etwas Besonderes ist. Somit enstehen bei Aloe große Minderwertigkeitskomplexe und Neidgefühle auf die Schwester, die zudem wunderschön ist und ein starkes Selbstbewusstsein besitzt.
Als Erwachsene meidet Aloe lange Zeit den Kontakt zu ihrer Familie und lebt ein Leben voller Irrwege gemeinsam mit dem Astronomen Lukas. Beruflich findet sie keinen Halt, wird magersüchtig, als sie unbewusst versucht, ihre eigene Sexualität in ihr Gegenteil zu verkehren und erlebt eine Fehlgeburt, die auch das Ende ihrer Beziehung zu Lukas mit sich bringt. Erst nach diesen Erfahrungen ist sie bereit, sich langsam der problematischen Thematik ihrer Kindheit und ihrer Familie, ihrer "Mitgift", wieder zuzuwenden.
Dass Ulrike Draesner Lyrikerin ist, merkt man an ihrer wundervollen Sprache und an den intensiven Bildern. Stellenweise gerät der Roman etwas zu ausführlich und droht langatmig zu werden, doch die Thematik und ihre Dramaturgie nehmen den Leser dann doch immer wieder mit bis zum unerwartet dramatischen Ende.
Fazit: Intelligent geschrieben, durch häufige Zeit- und Ortswechsel sehr anspruchsvoll und unsere Gesellschaft, die zur Normierung und Vertuschung des Abweichenden neigt, schonungslos schildernd, begeistert der Roman und stellt die Normen unserer Gesellschaft in Frage, unseren Umgang mit Menschen, die anders sind.
Christa Roßmann
© 2003 Christa Roßmann, Harald Kloth