Militärgeschichtliches Forschungsamt (Herausgeber)

Rolf-Dieter Müller (Herausgeber)

Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg

Band 10: Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945

Band 10/1: Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht. Band 10/2: Die Folgen des Zweiten Weltkrieges

Spätestens nach dem Film Der Untergang (2004, Regie: Oliver Hirschbiegel) sind die äußeren und inneren Faktoren des Zusammenbruchs des nationalsozialistischen Regimes wieder mehr in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt. Gerade der Aspekt, dass altersbedingt nur noch wenige Personen die letzten Tages des einst als „Tausendjährig“ proklamierten Reiches entweder an der Front oder im mittlerweile zerbombten Deutschland persönlich miterlebten, ließen in den 90er Jahren das Interesse an den genauen Umstände der Kapitulation merklich sinken. Nun legt das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) mit Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht sowie Die Folgen des Zweiten Weltkrieges eine monumentale Gesamtschau über die Hybris der Deutschen Wehrmacht und den Zusammenbruch des Reiches als Ganzes vor, welche zumindest für den Bereich der Militär- und Sozialgeschichte seines Gleichen sucht.

 

Die Teilbände 10/1 und 10/2 sind die beiden letzten Bände des MGFA einer auch weltweit einzigartigen, auf 10 Bände und auf über zehntausend Seiten angelegten Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges. Über 50 Autoren, alle ausgewiesene Fachleute, waren in nunmehr fast 20 Jahren an der Erstellung beteiligt. 1979 erschienen mit dem Thema Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik und Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent die ersten beiden Bände. Hervorzuheben ist der diesem Band zeitgeschichtlich vorgeschaltete und im letzten Jahr erschienene Band 8 über die Lageentwicklung an der Ostfront 1943/1944. Einzigartig macht diese Reihe seine ausgewogene gesamtheitliche Betrachtung des Zweiten Weltkrieges, steht doch nicht nur die Operationsführung im Mittelpunkt, sondern politische, soziologische, wirtschaftliche und ideologische Aspekte werden gleichermaßen umfassend betrachtet.

 

Der Teilband 10/1 gliedert sich in fünf Kapiteln, der sich im Gegensatz zu Teilband 10/2 im Schwerpunkt mit den militärischen Komponenten auseinandersetzt. Zunächst wird ein zusammenfassender Überblick über die Seekriegsführung von 1943 bis zur Kapitulation gegeben. Im Mittelpunkt steht hierbei Großadmiral Dönitz, einer der willigsten und loyalsten Helfer Hitlers. Exemplarisch zeigt sich bereits an der Planung der Seekriegsleitung und dem Verhalten der Admiralität das spätere Führungsgebaren des Heeres in den letzten Kriegsmonaten. Obwohl die beabsichtigte Operationsplanung keine Aussicht auf Erfolg versprach, wurde sie trotzdem „ohne wenn und aber“ und ohne Rücksicht auf personelle und materielle Verluste durchgezogen. Die immer größer werdende Schere zwischen den übertragenen Aufgaben und den zur Verfügung stehenden Mitteln wurde mit jedem Kriegstag größer. Blind vor Ergebenheit zu seinem Führer ging jedoch Dönitz seinen fatalen Weg bis zum Schluss weiter. Wie auch beim Heer, wurden gegen desertierende Marinesoldaten im Rahmen von Standgerichten zahlreiche Todesurteile gefällt. Als positiv hervorzuheben sind die im letzten Teil dieses Kapitels beschriebenen Rettungsaktionen, als die Marine - oftmals befehlswidrig - versuchte, möglichst viele ihrer mit dem gleichen Schicksal verbundenen Heereskameraden vor der heranbrausenden Roten Arme und damit der sicheren Kriegsgefangenschaft sowie dem drohenden Tod über die Ostsee ins Kernreich zu evakuieren.

 

In den folgenden drei Kapiteln werden detailliert zunächst die Kämpfe an der Westfront, in der Folge aber vor allem die Kämpfe an der Ostfront beschrieben. Während an der Ostfront im wahrsten Sinne des Wortes bis zur letzten Patrone gekämpft wurde, um der Rache der Roten Armee für die eigenen begangenen Kriegsverbrechen zu entgehen, war der Kampf an der Westfront trotz des letzten Aufflackerns im Rahmen der Ardennenoffensive im Bewusstsein sich einer Allianz aus demokratisch legitimierten Staaten zu ergeben ein eher halbherziger Kampf. Aufgrund des immensen Mangels an Waffen und Gerät, vor allem an Kampfpanzern, war eine bewegliche Operationsführung kaum mehr möglich. Die in den letzten Monaten praktizierte Verteidigungstaktik mittels Festungen verhinderte einerseits die Möglichkeit einheitsübergreifender Desertionen, erhöhte aber andererseits um ein Vielfaches die Zerstörung von Dörfern, Städten und Verkehrsinfrastruktur. Trotzdem gelang es an der Westfront zigtausend von Soldaten, sich aus der Umklammerung ihrer wahnwitzigen Generale zu befreien und in die Arme der Befreier zu flüchten. Mit bisher unbekannten Details stellt der Autor dabei dar, wie skrupellos die Deserteure im Rahmen von Standgerichten abgeurteilt und hingerichtet wurden.

 

An der Ostfront wurde im Wissen um die Vergeltungssucht der Roten Armee heroisch bis zum Untergang gekämpft. Fanatismus sollte die Schere zwischen Auftrag und Mittel schließen. Dem bis dato auch in der Geschichtsschreibung dominierenden, die Generale der Wehrmacht umgebenden Mythos, alleine Hitler alle Schuld für die fehlerhafte Kriegsführung zu zuschreiben, wird unter anderem in dem Beitrag von Andreas Kunz im Teilband 10/2 Die Wehrmacht 1944/45: Eine Armee im Untergang nachhaltig widersprochen. Die völlig an der Realität der täglichen Geschehnisse vorbei handelnden und die Realität verleugnenden Generale trugen durch taktische Fehler vorsätzlich zum Tode von Hundertausenden von Soldaten mit bei. Nur sie hätten die Möglichkeit gehabt, der sinnlosen Fortsetzung des Krieges Einhalt zu gebieten, resignierten dagegen jedoch vor dem Primat der Politik. Allerdings so die Autoren, war es insbesondere auch die Manie Hitlers, den eingeschlagenen Weg gegen alle Widerstände unbeirrbar fortzusetzen, die den Krieg unnötig verlängerte. Dabei soll Hitler gegen Endes des Krieges zunehmend an den überall einbrechenden Fronten desinteressiert gewesen sein, solange die Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden weiterlief. Da sich die wirre Utopie einer rassisch homogenen „Volksgemeinschaft“, die als „Herrenvolk“ den europäischen Kontinent durch einen neuen Lebensraum im Osten dominieren sollte nicht verwirklichen ließ, versuchte er schließlich seine Ziele auf noch negativere Weise zu erreichen: durch Massenmord. Nicht zu vergessen ist aber auch, dass die „Rote Armee“ sich selbst einem schnellen Kriegsende im Wege stand, vermochte sie doch trotz der unerschöpflichen personellen und materiellen Ressourcen aufgrund großer Fehler auf operativer und taktischer Ebene die deutsche Wehrmacht nur viel zu langsam und nur unter hohem eigenen Blutzoll aus den besetzten Gebieten zu vertreiben.

 

Besonders hervorzuheben ist das Kapitel von Horst Boog über den alliierten Luftkrieg. Er widerspricht nachhaltig den medienerregenden Darstellungen von Jörg Friedrichs in seinem 2002 erschienenen Buch Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940 bis 1945, dass der Bombenkrieg nur mit dem Ziel geführt wurde, über hohe Opfer in der Zivilbevölkerung den Willen und die Moral des deutschen Volkes für eine Fortsetzung des Krieges zu brechen. Zwar ist auch Boog der Meinung, die Flächenbombardements der Städte in den letzten Kriegsmonaten zu Recht als Verbrechen zu deklarieren, jedoch resultierte der militärische und wirtschaftliche Zusammenbruch des Reiches eher aus gezielten Angriffen auf Verkehrsinfrastruktur, Rüstungsindustrie und militärische Anlagen und damit aus materialzerstörender und nicht aus idealzerstörender bzw. völkermörderischer Motivation. Die unmittelbare Unterstützung der Boden- und Seestreitkräfte hatte, so der Autor, innerhalb der alliierten Luftwaffenverbände absolute Priorität vor der Städtebombardierung. Ein noch verlustreicherer Stellungskrieg konnte so vermieden werden.

 

Eine genaue Beschreibung der letzten Kämpfe an allen Fronten würde den Rahmen einer Rezension sprengen. Analog zu Band 8: Die Ostfront wird die Gefechtsführung auf strategischer, operativer und taktischer Ebene mit einer noch nie dagewesenen Genauigkeit nachvollzogen. Eine Vielzahl an Karten und Übersichten erleichtern das Nachvollziehen der Frontverschiebungen und des Kampfkraftvergleichs. Die widersinnigen Haltebefehle der politischen Führung standen im krassen Widerspruch zu den aufopferungsvoll kämpfenden Soldaten. Die zwar nach Außen hierarchische Gliederung des NS-Regimes wich zunehmend einer anarchischen Struktur und war nicht mehr beherrschbar. Jeder militärische Führer und die Führer der Sicherheitsdienste wirkten in ihrem Bereich wie kleine Diktatoren. Auch die Berichte über die Flüchtlings- und Vertriebenenwellen sowie der Zwangsumsiedlungen, vom Autor als die „größte ethnische Säuberung weltweit“ bezeichnet, gehen unter die Haut.

 

Entgegenden den Darstellungen in den ersten Bänden werden nun auf dem neuesten Forschungsstand auch unverblümt die enge Verzahnung und Verstrickung der Wehrmacht mit dem Genozid an den Juden beschrieben. Die unmittelbare und mittelbare Beteiligung an Exekutionen und Brandschatzungen ist mittlerweile unumstritten. Krieg und Genozid waren untrennbar. Gleichlaufende Planungen der Gefechtsführung und der Organisation des Völkermordes wurden auch dann noch vorangetrieben, als sich der Kriegsverlauf bereits eindeutig zuungunsten Deutschlands verschoben hatte.

 

Hitler hielt in seinem Wahn bis zuletzt an seiner Ideologie vom „Lebensraum im Osten“ fest. Während bereits die Schlacht um Berlin heftig tobte, versuchte Hitler am 29. April 1945, einem Tag vor seinem Selbstmord, der Wehrmacht in seiner letzten Botschaft aus dem Führerbunker noch einmal deutlich zu machen, dass es noch immer die Aufgabe der Armee sei, „für das deutsche Volk Raum im Osten zu gewinnen“. Da Hitler und sein Regime, aber auch die alten Führungsgruppen in Staatsbürokratie, Militär, Diplomatie und insbesondere auch in der Wirtschaft in ihrer Programmatik und Unterstützungsleistungen für das Regime in einem Boot saßen, waren die Geschehnisse auf dem Gefechtsfeld unabdingbar verknüpft mit der Mordpolitik und der Totalisierung der Bevölkerung für den Krieg. Am Image der Person Hitlers wurde auch in der größten Not nicht gekratzt, und trotz Kriegsmüdigkeit war zu keinem Zeitpunkt die Gefahr einer „Revolution von Innen“ zu spüren. Dies war auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die Kapitulation nicht nur zu einer militärischen und politischen, sondern auch zu einer moralischen Katastrophe für die Deutschen wurde - denn niemals vorher war die Diskrepanz zwischen dem Gewolltem und dem Erreichtem so groß wie bei den Deutschen. Der Versuch, die Vorherrschaft über den Kontinent zu erringen, war gescheitert.

 

Der Band lässt keine Fragen hinsichtlich der Gefechtsführung offen, aber, und das zeichnet das Gesamtwerk des MGFA aus, werden auch außenpolitische, ideologische, wirtschaftliche und soziologische Zusammenhänge umfassend gezeichnet und zweckmäßig verknüpft. Hier ist insbesondere auf den Teilband 10/2 zu verweisen, der ausführlich die außenpolitische Konstellation vor und nach der Kapitulation, die Diskussionen um die „deutsche Frage“, die ersten Ansätze des Wiederbelebens des Wirtschaftssystems, die Vertriebenenproblematik, die unterschiedlichen Verfahrensweisen der Alliierten im Umgang mit Gefangenen (während die Gefangenen in amerikanischen oder britischen Lagern human behandelt wurden, waren die Lebensbedingungen in französischen Lagern, aber insbesondere bei den Sowjets menschenunwürdig) sowie die immensen sozialen Herausforderungen für den Einzelnen, die Familien (einerseits durch sexuelle Übergriffe auf die Frauen, andererseits durch die kriegsbedingte Trennung der Familienmitglieder), die zu hohen gesellschaftlichen Spannungen führten, zum Thema hat.

 

Fazit: Das Buch ist aufgrund seiner wissenschaftlichen Sprache nicht einfach zu lesen und alleine aufgrund des Umfangs von 1.700 Seiten wahrlich kein Werk für denjenigen, der sich erstmalig einen Überblick über die Thematik verschaffen möchte. Dies jedoch ist und wird auch in Zukunft nicht der Anspruch des MGFA sein. Ein Buch welches aufgrund seiner umfassenden Betrachtung und damit der Darstellung der Totalität des Krieges als das Standartwerk des „Untergangs“ und seiner Folgen gelten dürfte.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2008 Andreas Pickel, Harald Kloth