Militärgeschichtliches Forschungsamt (Herausgeber)

Karl-Heinz Frieser / Klaus Schmider / Klaus Schönherr

Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg

Band 8: Die Ostfront 1943/44

Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten

62 Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches, könnte man der Auffassung sein, dass alle Details zum Zweiten Weltkrieg hinreichend erforscht und in unzähligen Büchern beschrieben wurden. Doch nun wird man eines Besseren belehrt. Der Oberst der Bundeswehr und Historiker Karl-Heinz Frieser legt im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) mit dem Buch Die Ostfront 1943/44 ein monumentales Werk über die Rückzugsgefechte der Deutschen Wehrmacht vor, welches zumindest für den Bereich der Militärgeschichte seines Gleichen sucht.

 

Das Buch ist der insgesamt 9. Band des MGFA einer auch weltweit einzigartigen, auf 10 Bände und auf über zehntausend Seiten angelegten Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges. 1979 erschienen mit dem Thema Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik und Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent die ersten beiden Bände. Hervorzuheben ist der diesem Band zeitgeschichtlich vorgeschaltete und 1983 erschienene Band 4 über den Beginn des Russlandfeldzuges, in dem erstmalig die Verflechtungen der Wehrmacht mit den Verbrechen der SS - Einsatzgruppen im Osten offen gelegt wurden und so deren vermeintlich „weiße Weste“ als Mythos entlarvte. Einzigartig macht diese Reihe seine bisherige gesamtheitliche Betrachtung (neudeutsch: holistisch) des Zweiten Weltkrieges, steht doch nicht nur die Operationsführung im Mittelpunkt, sondern politische, soziologische, wirtschaftliche und ideologische Aspekte werden gleichermaßen umfassend betrachtet. Anfang nächsten Jahres soll der letzte Band erscheinen, der auf dem aktuellen Forschungsstand den „Marsch nach Berlin“ und die Hybris der Deutschen Wehrmacht, also den Untergang behandeln wird.

 

Das Buch setzt ein mit der Kapitulation der 6. Armee unter Führung des Hitler-willigen Generalfeldmarschall Paulus in der Kesselschlacht um Stalingrad und endet mit dem Beginn der russischen Winteroffensive am 12. Januar 1945. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Gefechte und Schlachten gegen die „Russische Dampfwalze“ - beeindruckende Darstellungen des Krieges an den Nebenfronten in Skandinavien, Jugoslawien, Griechenland, Nordafrika und Italien, die teilweise abschließend bis zur Kapitulation im Mai 1945 beschrieben werden, runden die Darstellung des verlustreichen Kampfes deutscher Soldaten ab. In noch keinem Buch über Kriegshandlungen, wurde die Gefechtsführung auf strategischer, operativer und taktischer Ebene mit einer derartigen Genauigkeit nachvollzogen. Die fesselnden Darstellungen führen einem die gesamte Grausamkeit des Krieges sowie die Widersinnigkeit der Befehle und Weisungen der militär-politischen Führung in nie dagewesener Deutlichkeit vor Augen - sieht man einmal von den schaudernden Darstellungen über die hinter der Wehrmacht wütenden Einsatzgruppen (siehe Besatzungspolitik und Massenmord) ab.

 

Allerdings ist nicht nachzuvollziehen, warum einige, weniger bedeutende Kriegsschauplätze haarklein in allen Details durchleuchtet werden und das für das Jahr 1943 entscheidende Ereignis, die Landung der Alliierten auf Sizilien und der folgende heroische, wenn auch dort von Kriegsverbrechen gekennzeichnete, Kampf der Wehrmacht (siehe Ben Arie: Die Schlacht bei Monte Cassino 1944) in und um Italien insgesamt als Nebenfront und relativ kurz abgehandelt wird.

 

Zu Beginn steht natürlich die größte Schlacht von Landstreitkräften, die Schlacht im Kursker Bogen im Mittelpunkt, die mit der sowjetischen Sommeroffensive im Juli 1943 begann. In der Folge verschob sich der Verlauf der Front mehrmals hin nach Westen und wieder zurück nach Osten (durch meist regionale Gegenangriffe der Wehrmacht), auf der Zeitachse gesehen führte die Wehrmacht aber immer mehr ein Rückzugsgefecht. Insbesondere mit Beginn der sowjetischen Großoffensive am 22. Juni 1944, also pikanterweise auf den Tag genau drei Jahre nach dem Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion (Operation Barbarossa) nahm das Schicksal seinen Lauf: 1,2 Millionen sowjetische Soldaten mit cirka 4.000 Panzern und cirka 6.000 Flugzeugen (die Wehrmacht konnte deren 40 entgegenstellen) gelang innerhalb weniger Tage ein Vorstoß von über 300 Kilometer in die bröckelnde deutsche Front.

 

Der Autor legt hier anhand neuester Quellen dar, dass die Unterlegenheit noch gravierende war, als ursprünglich angenommen. Bereits am 25. Juli stand man kurz vor Warschau und die Heeresgruppe Nord zog sich bis nach Kurland zurück, hielt dort aber in einem aufopferungsvollen Kampf bis zur Kapitulation im Mai 1945. Besonders aufgrund sowjetischer Nachschubprobleme, aber auch wegen Führungsprobleme sowie individueller operativer und taktischer Fehler in der Führungsspitze der Sowjets, stabilisierte sich dann wieder zunehmend die Front, bis am 12. Januar 1945 die sowjetische Winteroffensive ein weiteres Halten der Stellungen unmöglich machte. Auch im Süden im Bereich der Heeresgruppe E fiel innerhalb kürzester Zeit der gesamte Balkanraum in sowjetische Hände, die Besetzung Rumäniens, Bulgariens und Teilen Ungarns machte schließlich auch eine Räumung Griechenlands notwendig. Bis zum Frühjahr 1945 zog man sich schließlich bis nach Kroatien zurück.

 

Auch wenn die Deutsche Wehrmacht mit allem aufopferungsvoll kämpfte, was Sie noch hatte, auch um das eigene Leben und die eigene Bevölkerung vor der Roten Armee zu schützen, so konterkarierte alles Hitler, der dem deutschen Volk einen grandiosen Untergang bereiten wollte. Haus für Haus, Straße für Straße sollten die deutschen Gebietsgewinne verteidigt werden.

 

Als schließlich Hitler zugunsten der aus seiner Sicht entscheidenden Schlacht, der Ardennenoffensive, Truppenverbände auf Kosten der fragilen Stabilität im Osten an die Westfront verlagerte, waren die deutschen Osttruppen endgültig dem schnellen Untergang geweiht. Die Obsession vom Lebensraum im Osten war endgültig ausgeträumt.

 

Am 12. Januar 1945 beginnt schließlich die Großoffensive der Roten Armee auf 1.200 Kilometer Breite zwischen Ostsee und Karpaten (Hitler hielt trotz Warnungen seiner Militärs den Aufmarsch der Sowjets für den „Größten Bluff seit Dschingis Khan“), die an Truppen und Material an nichts zu übertreffen war (elffache Überlegenheit). Diese Phase markierte auch den Beginn der größten Flüchtlings- und Vertriebenenwellen, die es in der Geschichte der deutschen Besiedelung in Europa je gegeben hatte.

 

Eine besondere Episode stellt das Kapitel über die ostpreußische Ortschaft Nemmersdorf dar, als Rotarmisten am 20. Oktober 1944 Kinder, Frauen, Greise, französische Kriegsgefangene und polnische Bauern niedermetzelten. Es war der erste Kontakt sowjetischer Soldaten mit der deutschen Zivilbevölkerung. In grauenvollen Bildern wurde der Vers des sowjetischen Dichters Ehrenburg Wahrheit: „Wenn Du einen Deutschen getötet, hast, so töte einen Zweiten – für uns gibt es nicht Lustigeres als deutsche Leichen!“ Nemmersdorf blieb kein singuläres Ereignis, nahm doch nun die sowjetische Armee Rache für die Gräueltaten der Einsatzgruppen. Die Angst vor der Roten Armee hat wahrlich seine Berechtigung. Massenvergewaltigungen, das wahllose Exekutieren aller Personen in Uniform, ganz gleich, ob Feuerwehr, Postbote, Eisenbahner oder Förster zogen eine blutige Spur durch ehemals deutsche besetzte Gebiete. Neben dem Faktor Rache spielten auch die nachlassende Disziplin, übermäßiger Alkoholkonsum, der Rausch, den Krieg bald zu beenden eine wesentliche Rolle.

 

Erwähnt werden sollte an dieser Stelle jedoch auch, dass die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg den größten Tribut zu zahlen und rund 28 Millionen Tote zu beklagen hatte, erkämpft mit der Zerstörung des eigenen Landes. Diese Zahl soll aber Kriegsverbrechen nicht rechtfertigen. Frieser sieht durch diese Aktion bedeutende Nachteile für die Sowjetunion: Der Angriffsschwung wurde abrupt gestoppt („Mit marodierenden Soldaten lässt sich kein operativer Bewegungskrieg führen“, Seite 621), die Gegenwehr der Deutschen Wehrmacht wurde erheblich gestärkt und viel später im Kalten Krieg hätte die Nuklearstrategie der NATO, die bewusste Inkaufnahme eines nuklearen Schlagabtausches in Deutschland (Mutual Assured Destruction – sichere gegenseitige Vernichtung), ohne das Trauma Nemmersdorf nie Verständnis in der Bevölkerung finden können.

 

An dieser Stelle sei angemerkt, dass im Vergleich zu den Darstellungen russischer Kriegsverbrechen, man in den Ausführungen Friesers bis auf einige kurze Exkurse kaum Aussagen zu Gräueltaten der anderen Seite findet. Unbestreitbar hat die Deutsche Wehrmacht auch im Rückzug ihren ideologischen Kampf pflichtgemäß und ohne weiteres Hinterfragen fortgesetzt, geplündert, gebrandschatzt, exekutiert und vergewaltigt. Nur beiläufig findet dies Erwähnung.

 

Das Buch lässt keine militärischen Fragen offen, ja es beantwortet sogar Fragen, die man sich trotz langer und intensiver Beschäftigung mit dem Thema nie gestellt hätte. Hervorragende, auch für den militärisch nicht so bewanderten Leser leicht verständliche Kartendarstellungen runden den Band ab. Allerdings stellt das Buch die militärische Komponente zu sehr und teilweise fast ausschließlich in den Mittelpunkt und vernachlässigt so die nicht weniger wichtigen Aspekte wie Ideologie und außenpolitische Zusammenhänge. Auch kommen im Gegensatz zu Band 4 hier die unstreitbar vollzogenen Barbareien und Verbrechen der Wehrmacht schlichtweg zu kurz.

 

Die als eine wesentliche Quelle genutzten Befehle Hitlers machen in jeder Phase die Widersinnigkeit des Krieges und die Fehlplanungen des „GröFaZ“ (Größter Feldherr aller Zeiten) deutlich, der aus militärischer Sicht eher wie ein Gefreiter handelte, der er de facto auch war. Den Zerfall der Deutschen Wehrmacht hat er an der obersten Spitze ohne Zweifel bewirkt. Die Art und Weise, wie Hitler seine Macht militärisch missbrauchte wurde zum zerstörerischen Element für die kämpfenden Verbände.

 

Allerdings, so Wegner im letzten Kapitel des Buches, war Hitler bei aller Sturheit und Beratungsresistenz auf der militär-politischen und militär-strategischen Ebene sowie bezüglich der Führung eines gesamtheitlichen Krieges den meisten seiner Generalen voraus, die sich eher im „klein-klein“ verstrickten. Indirekt übt er so Kritik (auch an dem Herausgeber) an dem oftmalig nicht unbedingt wissenschaftlich neutralen Bezug mancher Autoren auf die unzähligen Memoiren deutscher Wehrmachtsgenerale, die mit einer Art „Weisheit des Rückblicks“ (natürlich möchte man sagen) alle Schuld an der Niederlage allein Hitler in die Schuhe schoben.

 

Das aus meiner Sicht interessanteste Kapitel ist deshalb das von Bernd Wegner am Ende des Bandes, der erstens ungeschminkt die Strategie der „Verbrannten Erde“ und die Kriegsverbrechen der Wehrmacht beschreibt, aber auch den Führungsstil und die Fähigkeit zur Operationsführung der deutsche Wehrmachtsführung kritisch unter die Lupe nimmt. Aus seiner Sicht waren es nicht nur die Fehler Hitlers sonder insbesondere auch unfähige, vom Ehrgeiz getriebene völlig an der Realität vorbei handelnden und die Realität verkennende, meist jedoch auch amtsmüde Generale die das Dritte Reich in den Untergang trieben.

 

Schon ab 1942 wurde nur noch reagiert und das ohne jegliches Konzept, anstatt im Rahmen der immer noch gegebenen Möglichkeiten zu versuchen, die Initiative zu behalten. Insbesondere nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 schwenkte die Heeresführung schweigsam nicht nur politisch-ideologisch, sondern auch militärisch auf Hitlers Linie ein. Nach dem Motto „business as ususal“ wurde der Krieg so geführt, als ob (Überschrift dieses Kapitels) das Ruder noch herumzureißen wäre. Hitler hingegen, so Wegner, glaubte schon lange nicht mehr an den großen Sieg, er wollte das Ende des Krieges so lange hinauszögern, bis die Vernichtung der Juden abgeschlossen war.

 

Hitlers Sinn im Kriege lag spätestens ab 1943 auch im Untergang des deutschen Volk, hat es sich doch als das Schwächere im Kampf auf Leben und Tod erwiesen. Der Krieg der „Verbrannten Erde“ (manifestiert in dem späteren sogenannten Nero-Befehl), sollte im eigenen Land fortgeführt werden. Hitler, so Wegner, war nicht der Erfinder der Ideologie der Selbstvernichtung, sonder „nur“ ihr Durchführender.

 

Wenn man das Buch nach über 1.200 Seiten zur Seite legt (übrigens der bisher dickste Band der Reihe), würde man am Liebsten gleich das Buch von Antony Beevor Berlin 1945 oder The Road to Berlin von John Erickson hinterher reichen, um den Zweiten Weltkrieg gedanklich abzuschließen. Ein bisschen zurücklehnen und reflektieren des Gelesenen sowie die Vorfreude auf den letzten Band des MGFA halten einen davon ab.

 

Fazit: Ein Buch welches trotz kleinerer Unausgewogenheiten aus seiner detailgenauen militärgeschichtlicher Sicht ein Meilenstein in der Darstellung der Operationsführung des Zweiten Weltkrieges darstellt und absolut empfehlenswert ist.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2007 Andreas Pickel, Harald Kloth