Ein Krieg, mitten im Herzen Europas, der 3 ½ Jahre lang, 1.425 lange Tage und Nächte das größte Leid über einen europäischen Staat seit Ende des 2. Weltkrieges gebracht hat und heute angesichts von Finanz- und Staatskrisen fast schon in Vergessenheit geraten ist. Der Genozid an etwa 8.000 Menschen in Srebrenica gilt heutzutage als Mahnmal aller modernen Konflikte. Das Zentrum des grausamen Bombardements war die Hauptstadt Sarajewo, in der die Bevölkerung meist ohne Strom, Gas und Wasser unvorstellbares Leid und fast pausenlosem Mörser-, Granat- und Scharfschützenbeschuss ausgesetzt war. Ca. 11.500 Tote, darunter über 1.500 Kinder, und ca. 50.000 Verletzte sind die traurige Bilanz. Nun hat die damalige Osteuropa-Korrespondentin Barbara Demick eine überaus beeindruckende Neuauflage ihres 1996 erschienen Buches Logavina Street herausgebracht. Dieses wurde bis auf das letzte Kapitel nur unwesentlich verändert, um auch heute noch ihre damals frischen Eindrücke über das Leben in Sarajewo im täglichen Bombenhagel und unter ständiger Bedrohung von Scharfschützen möglichst authentisch wiederzugeben.
In der Nacht vom 4. auf den 5. April 1992 besetzten Truppen der Jugoslawischen Bundesarmee den Internationalen Flughafen von Sarajewo und übergaben ihn an serbischen Truppen. Somit war Sarajevo von serbischen Truppen eingeschlossen, dieses Ereignis gilt als der offizielle Beginn der Belagerung Sarajewos. Am meisten zu leiden hatte die Zivilbevölkerung, aber auch Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, unter Heckenschützen. Diese „Sniper“ töteten ca. 250 Zivilisten, darunter über 60 Kinder und über 406 Soldaten. Daneben schlugen täglich durchschnittlich über 300, an manchen Tagen bis weit über 3.000 (sic!) Granaten und Mörser in der Stadt, auch in Kirchen und Moscheen, ein, mit beträchtlichen Schäden an der Infrastruktur, Wasser und Elektrizitätsleitungen. Aber auch die so historisch wertvollen Wahrzeichen der Stadt, wie die Nationalbibliothek gingen in Flammen auf. Am 27. Mai 1992 tötete eine Mörsergranate auf dem Markt in der Fußgängerzone Vase Miskina 22 Menschen, rund 60 weitere wurden schwer verletzt. Der Angriff wurde als „Breadline Massacre“ bekannt, da die Opfer an der Stelle auf die Verteilung von Brot warteten. Erst jetzt begriffen die Leute, was Krieg wirklich bedeutet. Am 28. August 1995 feuerten serbische Truppen fünf Mörsergranaten aus der Schutzzone heraus auf den Markale-Markt, wobei 37 Zivilpersonen getötet und 90 verletzt wurden (Heute erinnern nur noch vier schlichte Aushänge an der Markthalle mit der Aufschrift "Sarajlije nikada nece zaboraviti" [die Bewohner Sarajewos werden es nie vergessen]) an die Tat. Nun erst startete die NATO gezielte Angriffe auf serbische Stellungen und minderte so das Leid der Zivilbevölkerung. Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris schließlich der Dayton-Vertrag unterzeichnet, der Bosnien und Herzegowina als souveränen und ungeteilten Staat bestätigte. Das Land setzte sich von nun an aus zwei Entitäten zusammen: der Republik Srebska mit 49 % und der bosniakisch-kroatischen Föderation. Auch wenn daraufhin eine Periode der Stabilität und Normalität folgte und die Flüchtlinge in ihre Wohnorte zurückkehren konnten, erklärte die bosnisch-herzegowinische Regierung erst am 29. Februar 1996 die Belagerung Sarajevos für offiziell beendet.
Soweit zu den Fakten. Aber um diese Fakten geht es der Autorin nicht. Wer solche sucht, muss zu einem anderen Buch greifen. Stattdessen stehen die Menschen im Mittelpunkt, deren jedes einzelne Schicksal eigentlich ein eigenes Buch wert wäre. Menschen, die noch 1991 mit Sorge nach Kroatien blickten, aber weniger dass der dortige Krieg zu Ihnen überschwappen konnte, sondern eher um das Sommerdomizil und den Urlaub fürchteten. Daran mochte schon bald kein Mensch mehr denken, anfängliche friedliche Demonstrationen „Mi smo za mir“ („Wir sind Frieden“) verpufften schnell angesichts des anrückenden Kriegsgräuel.
Obwohl ab dem Juli 1992 eine internationale Luftbrücke eingerichtet wurde, um die Versorgung von Hunderttausenden eingeschlossener Menschen zu unterstützen, fehlte alles an allen Ecken und Enden. Doch die Bürger von Sarajewo entwickelten ein unglaubliches Improvisationsvermögen und auch Gleichgültigkeit. „Wenn Sie mir heute eine Packung Zigaretten schenken, rauche ich sie hintereinander weg, weil ich nicht weiß, ob ich morgen noch da sein werde“, so eine Frau zur Autorin. Fast alle verloren an Gewicht, die sogenannte „Sarajewo Diät“, Kettenrauchen und die physische und psychische Belastung trugen dazu bei. Daneben waren Strom, Gas und Wasser der Hauptgesprächsstoff zwischen den Bürgern der Logavina. Als bemerkenswert ist auch der Babyboom während des Krieges zu nennen, teils begründet in den langweiligen Nächten ohne Heizung und Strom, aber auch als Zeichen an die Serben, dass man nicht auszurotten sei. Da über offizielle Quellen nichts zu erhalten war, umso wichtiger war der Schwarzmarkt, nur am Tauschbasar konnte man die lebensnotwendigsten Dinge erhalten.
Ab Mitte September 1995 erst wurden die Hilfsflüge wieder aufgenommen, erste Hilfskonvois erreichten die Stadt, nach und nach füllten sich die Regale. Bald öffnete auch der erste Benetton-Laden, eher ein Symbol für den Neubeginn, denn keiner konnte sich die Preise leisten. Als der Krieg mit Waffen vorbei war, begann nun der politische und wirtschaftliche Krieg, der Krieg um Macht und Einfluss im wiedererwachten Bosnien. Bosnien-Herzegowina hat heute noch die niedrigsten Löhne und die höchsten Arbeitslosenzahlen in Europa. Die besten Möglichkeiten auf Arbeit finden sich in dem überbürokratisierten und schwerfälligen öffentlichen Dienst, in der akribisch genau, aber eigentlich diskriminierend dem Ethnienproporz Rechnung getragen werden muss. Denn eigentlich sind heute 90 Prozent der Bürger Sarajewos Muslime. Kein Wunder, dass also teils eine Jugonostalgie aufkommt, die Sehnsucht nach vergangenen, besseren Zeiten. Ein Phänomen, das auch vor allem in Rumänen zu beobachten ist oder wer kennt nicht die DDR-Nostalgie einiger ostdeutscher Mitbürger?
Der Krieg war für alle nicht zu verstehen, war man doch gewohnt multiethnisch zusammen zu wohnen und zu leben, hatte jahrelang Freundschaften gepflegt, alle Beteiligten hatten dieselben ethnischen Wurzeln. Sarajewo war der gelungene Prototyp multiethischen und –religiösen Zusammenlebens. Es war jedoch weder ein ethnischer noch ein Religionskrieg. Ganz gleich, ob orthodox, katholisch oder Jude, wer in Sarajewo wohnte war ein Bosnier, so die einhellige Meinung. Das Rätsel des Bosnienkrieges ist auch heute noch Thema vieler Diskussionen.
Mehr als 10 Jahre nach dem Krieg kam die Autorin noch zweimal nach Sarajewo. Während sich andere Städte ständig weiterentwickeln, sich neudefinieren, blieb für sie die Stadt zeitlos, ohne große Veränderungen, die gleichen Läden, die gleiche Musik, die gleiche Lebensart. Die Folgen des Krieges sind noch heute an vielen Ecken der Stadt und in den Gedanken der Menschen zu spüren. Bei einem ihrer Spaziergänge durch die Stadt entdeckte sie auch die „Rosen von Sarajewo“, die Löcher von den Granateinschlägen, die im Gedenken an die Toten mit rotem Harz gefüllt wurden.
Die Faszination des Buches liegt vor allem darin, dass die gesamte Geschichte der Grausamkeit des Krieges aus Sicht einer einzigen Straße, der Logavina, eine der ältesten Straßen Sarajewos, erzählt wird. Demicks‘ „Geschichte vom Krieg“ (so der Untertitel des Buches) berichtet von Träumen, die verpufften, von Hilflosigkeit, aber auch von Improvisationsvermögen, Hoffnung und Willensstärke. Anhand der einen Straße wird die Situation der ganzen Stadt, ja des ganzen Landes begreifbar und in den Aussagen und Handlungen der Bürger werden gar auch europäische und amerikanische Sichtweisen deutlich. Aber nicht die machtgierigen serbischen Machthaber, nicht die hilflosen westlichen Politiker, nicht die Vereinten Nationen, die im Bosnienkonflikt ihren traurigen Ruf als „zahnlosen Tiger“ alle Ehren machte, nicht der Kriegsverlauf, nein, der Alltag der Bürger eines einst wohlhabenden Viertels in Sarajewo steht im Mittelpunkt, ganz gleich welchen Alters und vor allem ganz gleich, welcher Ethnie. Mit teils sarkastischem Humor verbindet die Autorin die Gefühle, Denkweise und aus der Not geborenen Überlebensstrategien mit den blutigen Taten serbischer Heckenschützen. Man spürt, dass die Autorin eine von ihnen war, so authentisch sind ihre Erzählungen. Ich selbst habe ja für einige Monate das Sarajewo des Jahres 1997 erlebt, aber wir hatten auftragsbedingt nicht diesen tiefen Einblick in den täglichen Überlebenskampf der Menschen.
Es ist natürlich ein trauriges Buch, ein Buch über Trauer, Trennung, Verzweiflung, aber kein Buch über Hoffnungslosigkeit, sondern auch darüber wie man einer überwältigenden Macht mit eisernem Willen und Durchhaltefähigkeit trotzen kann. Trotz allem Beschuss konnte so die Stadt nie eingenommen werden. Es gelang den militärisch weit überlegenen Serben zu keinem Zeitpunkt, den unbändigen Willen der Bürger von Sarajewo zu brechen. Und dies, obwohl die bosnische Armee eher eine Armee aus „Pendlersoldaten“ war, die zuhause wohnten und lebten und zu Fuß zur Front gingen. Mangel an Waffen, Munition und Betriebsstoff wurde durch Kampfgeist kompensiert.
Man hätte die Geschichte auch über die Flüchtlinge schreiben können. Schon im Mai 1992 waren eine Dreiviertelmillion Bosnier vertrieben worden, am Ende des Krieges war ca. die Hälfte der knapp 9 Millionen Bürger heimatlos. Nur wenige schafften den Sprung nach Amerika oder Australien, in das vermeintlich „gelobte Land“. Aber Demick erzählt alle Facetten des Kriegs anhand einer einzelnen Straße, nicht minder beeindruckend. Trotz Überlebensstrategien und schwarzem Humor, viele Bürger wurden mit Dauer des Kriegs tief traumatisiert, Aberglauben an Hufeisen und schwarzen Katzen half da nur oberflächlich. Auch heute noch leiden die Menschen unter posttraumatischen Störungen, Silvesterböller oder anderes plötzliches Krachen weckt Erinnerungen, verbreitet sofortige Todesangst. Die einstigen Granateinschläge, obwohl fast 20 Jahre zurück, stecken tief in der Psyche der Menschen.
Der Roman von Barbara Demck ist sprachlich ein absoluter Genuss, teils voller Ironie, irgendwie sympathisch, aber doch die Grausamkeit des Krieges und seine Auswirkungen auf tägliche Leben bildlich beschreibend. Selten werden in der deutschen Sprache Gefühle, Perspektivlosigkeit und Denkprozesse so plakativ dargestellt wie hier.
Geschichte lässt sich am Besten durch Zeitzeugen erzählen. Diese gibt die Autorin ungeschminkt weiter. Die Autorin gibt den bis dato so vielen namenlosen Opfern ein Gesicht und das macht nach den vielen Jahren seit Kriegsende immer noch ein schlechtes Gewissen, ein schlechtes Gewissen Staatsbürger eines Landes zu sein, was jahrelang einem sinnlosen Morden zugesehen hat. Sie fragt nicht nach dem „Warum der Taten“, nach den Symptomen, sondern was sie verursachten.
Wer dieses beeindruckende Buch mit Bildern hinterlegt haben möchte, dem empfehle ich nachhaltig den auch für die „Goldene Palme“ nominierten Film Welcome to Sarajewo von Michael Wintterbottom aus dem Jahr 1997.
Das Schicksal dieser Stadt darf nicht in Vergessenheit geraten, so die Botschaft von Demick und wer beim Lesen mitleidet, wird es auch nie tun.
Fazit: Ein beeindruckender, ungeschminkter Blick auf einen grausamen Krieg. Sehr empfehlenswert.
Andreas Pickel
© 2012 Andreas Pickel, Harald Kloth