Stefan Creuzberger

Stalin

Machtpolitiker und Ideologe

In letzter Zeit häufen sich in Russland glorifizierende Reminiszenzen an Stalin. Dies aber nicht nur durch unbelehrbare altkommunistische Eliten, nein, die politische Führung selbst, allen voran Putin und Medwedjew, steht an der Spitze dieser Bewegung. Die so betriebene Geschichtsfälschung hat offensichtlich nur einen Zweck: Das grausame Terrorregime des Diktators, welches Millionen von Toten allein in der eigenen Bevölkerung auf seinem Gewissen hatte, vorsätzlich zu verharmlosen und gleichzeitig dessen Leistungen am Aufstieg Russland zur Weltmacht über zu betonen. Durch Retrospektive im Sinne von "Erinnerungen an die gute alte Zeit" will man die Bevölkerung hinter sich vereinen für die Anstrengungen, über eine in großen Teilen anti-westliche Außen- und Sicherheitspolitik (siehe zum Beispiel den Konflikt um russische Gaslieferungen) den Weltmachstatus wiederzugewinnen. Dies zum Anlass nehmend, legte vor kurzem Stefan Creuzberger eine neue Biografie über Stalin vor, die sich ausgewogen mit dem Innen- und Außenpolitiker Stalin sowie mit den ideologischen Grundlagen des Stalinismus auseinandersetzt.

 

Creuzberger beginnt sein Buch quasi von hinten und setzt mit dem Tod Stalins ein. Dieses nicht einmal zweitägige Prozedere spiegelt beispielgebend über 25 Jahre diktatorischen und repressiven Führungsstil wider. Wären seine Untergebenen selbstdenkend und -handelnd erzogen worden, wäre Stalin nach einem Schlaganfall nicht bereits am 4. März 1953 gestorben. So aber verharrte zunächst die unmittelbare Entourage in einer verängstigenden Handlungsstarre und als diese endlich aufbrach und das schwerfällig anrollende System noch zu retten versuchte, was eigentlich nicht mehr zu retten war, war es zu spät.

 

Doch zurück zum Leben des Diktators. Creuzberger bringt erstaunlich viele Details über die Jugendjahre Stalins zu Tage, obwohl dieser noch zu Lebzeiten alles versuchte, seine kaukasische Sozialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert zu verschweigen, ja zu vertuschen. Schon damals zeigten sich spätere Wesenszüge Stalins: Sein ausgeprägter Wille zur Macht sowie sein ungebrochenes Selbstvertrauen, aber vor allem der Glaube, dass Herrschaft und Führung nur über Beziehungen und insbesondere durch Gewalt zu erreichen und zu halten sind. Der ehemalige Musterschüler eines Priesterseminars wurde nach und nach zum Unruhestifter zugunsten der neuen bolschewistischen Bewegung und bald einer ihrer führenden Köpfe. Obwohl er mit den grundsätzlichen Leitlinien und strategischen Zielen Lenins konform ging, versuchte er in der Umsetzung und Durchführung eigene, kontroverse Akzente zu setzen. Einheitliche revolutionäre Prinzipien sowie beiderseitig ausgeprägter Pragmatismus förderten insgesamt jedoch eher ein Mit- als ein Gegeneinander. Nicht zuletzt schätzte Lenin Stalins Skrupellosigkeit, schnell wurde er sein "Genosse fürs Grobe". Obwohl Stalin es verstand, sich (freundlich umschrieben) aus den revolutionären Unruhen herauszuhalten (Leonhard bescheinigte ihm in seiner kürzlich erschienene Kurzbiografie gar eine "schlichte Abwesenheit"), wurde er nach der bolschewistischen Februar- und Oktoberrevolution bald zum Generalsekretär ernannt und hielt nun große Teile der Fäden in der Hand haltend.

 

Nach dem Tod Lenins entstand für kurze Zeit ein Machtvakuum, das Stalin durch eine ausgeklügelte "Machtübernahme" schnell schloss. Während andere noch trauerten und zauderten, beschwor er die kommunistische Bewegung. Creuzberger sieht drei Phasen der Machtergreifung. Zunächst die eigentliche Machtübernahme innerhalb der Partei, dann der aktive Kampf gegen oppositionelle Kräfte und schließlich die Manifestierung einer absoluten Diktatur. Stalin zementierte so innerhalb kürzester Zeit seinen Aufstieg zum uneingeschränkten Machthaber des Riesenreiches - und das, obwohl er aus der näheren Entourage Lenins als der eigentlich unbeliebteste und am wenigsten charismatischste Genosse galt. Sogar Lenin selbst erkannte ihm in seinem politischen Testament, dessen Veröffentlichung Stalin aus berechtigten Gründen zu verhindern wusste, die Fähigkeit als sein Nachfolger ab.

 

An der Macht, ging Stalin schonungslos dazu über, seine Konkurrenten nach und nach aus dem Weg zu räumen. Innerhalb von fünf Jahren wurde Stalin der unumschränkte Herrscher, umgeben nur noch von einer Heerschar willfähriger Lakaien in einem undurchsichtigen hierarchischen System. Jedem wurde bald deutlich, was Stalin unter dem "Sozialismus in einem Lande" verstand: Unterdrückung, Deportation, Terror und Tod. Creuzberger sieht dies aber nicht nur in der Person Stalins begründet, sondern auch als Produkt der russischen Geschichte und der gegen Ende radikalisierten bolschewistischen Bewegung. Willkürliche Verhaftungen von so genannten Klassenfeinden, zunächst von Kulaken, dann vor allem von Bauern, waren die Folge, um die Kollektivierung voranzutreiben. Trauriger Höhepunkt war schließlich die zwischen 1936 und November 1938 wütende Gewaltorgie gegen alle, die auch nur ansatzweise im Verdacht standen, gegen das System zu opponieren. Auch die Armee wurde Opfer der großen Säuberung, dem ca. 36.000 Soldaten, darunter viele Offiziere zum Opfer fielen. Ein Umstand, der sich später noch rächen sollte. Insgesamt sollen fast 700.000 Menschen erschossen und fast zwei Millionen deportiert worden sein. Der "Auftraggeber" Stalin wurde dagegen immer populärer, auch weil es ihm gelang, Positives auf seinen Führungsstil zurückzuführen und Unpopuläres auf andere abzuwälzen. Indem er den Leuten das Gefühl einer kapitalistischen Umkreisung vermittelte, konnte er seine Repressalien als notwendig verkaufen.

 

Konstanten stalinistischer Außenpolitik waren das stete Streben nach einem guten Verhältnis zu Deutschland (um damit Europa zu besitzen) sowie zu China (um damit Asien zu erobern und das britische Imperium zu stürzen). Stalins Bündnisversuche mit China waren rein ideologischen Gründen geschuldet, scheiterten aber schließlich und hinterließen, so der Autor, auch seinen Nachfolgern eine schwere Hypothek, die bis heute zu spüren ist. Das Verhältnis zu Deutschland war dagegen rein machtpolitisch motiviert. Dies zeigt sich fatal beim Angriff Hitlers auf die Sowjetunion. Die Sowjetunion war mit Beginn des Zweiten Weltkrieges auf einen größeren Konflikt nicht vorbereitet. Durch die ideologisch begründete Säuberung der Armee ging fast die gesamte militärische Expertise und Erfahrung verloren. So war Stalin sichtlich erleichtert, als man am 23. August 1939 den "Hitler-Stalin-Pakt" unterzeichnen konnte. Für Creuzberger spricht vieles dafür, dass für Stalin in erster Linie macht-, statt defensive sicherheitspolitische Motive den Ausschlag für den Nichtangriffspakt mit Hitler gaben. Nach neuesten Erkenntnissen fanden durchaus auch alternative Bündnisverhandlungen mit Frankreich und Großbritannien statt, doch die durch Hitler in Aussicht gestellte freie Hand in Osteuropa, ließ Stalin zugunsten Hitlers entscheiden. Als 1941 ein deutscher Angriff virulent wurde, ignorierte Stalin alle Warnungen und schenkte nur seiner eigenen, fehlerhaften Einschätzung Glauben. Die Folgen sind bekannt.

 

Innerhalb kürzester Zeit stand die Deutsche Wehrmacht vor Moskau und erst im Dezember 1941 gelang eine erste, aber äußerst effektive Gegenoffensive. Lange Zeit blieb Stalin mangels Zivilcourage seiner Kommandeure durch geschönte Berichte von der Front das wahre Ausmaß der Katastrophe unbekannt. Auch versuchte er vergeblich nur über Gewalt und Drohgebärden vor den Konsequenzen einer militärischen Niederlage zu motivieren. Erst Stalins Befehl vom 9. Oktober 1942, in Verbindung mit einem gigantischen Rüstungsprogramm, welches von der "Heimatfront" enorme Opfer forderte, sowie Hilfslieferungen der westlichen Alliierten markierte den entscheidenden Wendepunkt seiner Kriegsführung. Die einflussreichen, aber militärisch unfähigen Politoffiziere wurden abgeschafft und auch er selbst überließ nun seinen Generälen die Kriegsführung. Indem Stalin Sozialismus und Kommunismus durch Begriffe wie Vaterland und Heimat ersetzte und den "Großen Vaterländischen Krieg" ausrief, mobilisierte er im letzten Moment alle verfügbaren Reserven. Mit dem Einmarsch in Berlin und der Kapitulation Hitler Deutschlands war Stalin am Höhepunkt seiner Macht angekommen. Allerdings wären Millionen von Menschenleben zu retten gewesen, hätte nicht Stalins (vorsätzliche) Ignorierung des deutschen Angriffs noch bis einen Tag vor Angriffsbeginn zu einem der größten Irrtümer der Geschichte geführt.

 

Die nach Kriegsende von der Bevölkerung erhoffte Liberalisierung der Sowjetunion blieb ein Traum. Stalin wusste seine "Festung" gegen jegliche westliche Einflüsse abzuschotten, der Stalinismus alter Ordnung gewann die Oberhand. Seine marionettenhafte Gefolgschaft stand weiter kritik- und widerstandslos hinter ihm. Die nach dem Krieg vollzogene Teilung des besiegten Deutschlands in eine westlich orientierte Demokratie und in die kommunistisch geprägte DDR ist hinlänglich bekannt. Schon bald nach Kriegsende kam es aufgrund der stalinistischen Osteuropa- und Deutschlandpolitik zu einem Bruch der Anti-Hitler Koalition. Nachdem Stalin noch durch die in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1948 verhängten "Berlin-Blockade" versuchte ein westlich orientiertes Deutschland zu verhindern, wuchsen stattdessen die antisowjetischen Ressentiments. Der Weg in eine Zweistaatlichkeit Deutschlands war unausweichlich. In kürzester Zeit gelang es Stalin, sein stalinistische Strukturen und ein auf gegenseitiger Bespitzelung aufgebautes Staatssystem auf die DDR überzustülpen. Nach seinem Tod 1953 war die Sowjetunion zunächst wie paralysiert, doch bald griffen erste Maßnahmen der Entstalinisierung. Auch wenn es niemand öffentlich zugeben würde, der Tod Stalins ließ das Land aufatmen. Umso bedenklicher, wenn nun die offizielle staatliche Geschichtspolitik eine aktive (Wieder-)Verherrlichung der Taten Stalins betreibt.

 

Fazit: Das vorliegende Buch rückt Stalin auf dem neuesten Forschungsstand ins rechte Licht. Creuzbergers Untersuchungen stellen verständlich die Handlungstriebe des Tyrannen sowie seiner beeinflussenden Faktoren dar. Der Autor warnt durch sein faktenreiches Buch nachhaltig vor der Verherrlichung eines Verbrechers und kritisiert zu Recht die jetzige russische Administration, die einer ehrlichen Aufarbeitung des Regimes Stalins standhaft widersteht. Stalin war weder der Held der bolschewistischen Revolution noch ein gerechter Staatsmann, sondern ein reiner Machtmensch, der nur zum eigenen Wohle über Leichen ging. Die durch Creuzberger gewählte Aufteilung des Buches in Innen- und Außenpolitik erschwert das Nachvollziehen ihrer Interdependenzen. Trotzdem gelingt es dem Autor das Auf und Ab der stalinistischen Sowjetunion bis schließlich hin zu ihrem Aufstieg zur Weltmacht ganzheitlich vor Augen zu führen. Eine insgesamt gelungene Gesamtschau über den neben Hitler vielleicht größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2009 Andreas Pickel, Harald Kloth