Harald Welzer

Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden

Frankfurt am Main ; Fischer ; 2005 ; 323 Seiten ; ISBN: 3-10-089431-6

 

"Es gibt die Ungeheuer, aber es sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die ganz normalen Menschen."
(Primo Levi, Seite 12)

 

Als ich vor einigen Jahren das erschütternde Buch von Andrej Angrick Besatzungspolitik und Massenmord, der den mörderischen Weg der in Transnistrien, auf der Krim und im Kaukasus, also im Bereich der 11. Armee und später der Heeresgruppe A operierenden Einsatzgruppe D gelesen hatte, beschäftigten mich in der Folge zwei Hauptfragen: Erstens, wie sah es mit der Strafverfolgung der Täter aus und insbesondere zweitens, wie es passieren konnte, dass Hunderttausende von ganz normalen Menschen ohne tieferes Hinterfragen wehrlose Menschen, auch Frauen und Kinder hinrichten konnten. Auf ersteres bekam ich schnell eine Antwort durch die Lektüre von Marc von Miquel Ahnden oder Amnestieren?, aber eine umfassende Studie zum Thema Normalbürger gegen Massenmord lag bis dato nicht vor. Jetzt legt der Sozialpsychologe Harald Welzer mit seinem Buch Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden einen ganz wichtigen Mosaikstein zum Verständnis des Holocaust vor.

 

Nachdem 1993 der amerikanische Historiker Christoph Browning in seinem Buch Ganz normale Männer den gruppendynamischen Prozess als die Hauptursache für die Massenmorde sah, war es nach Daniel Goldhagen in seinem 1996 erschienenen Bestseller Hitlers willige Vollstrecker der sich in den Deutschen über Jahrhunderte aufgebaute Antisemitismus, der nur darauf wartete, in einem dafür günstigen Gesellschafts- und Herrschaftssystem offen zum Ausbruch zu kommen. Die Frage nach dem - Wie und warum werden aus ganz normalen Menschen industrielle Vernichtungsmaschinen? - blieb aber grundsätzlich weiter offen.

 

Bei Vernichtungspolitik haben wir es nicht mit genetisch bedingten Abläufen zu tun, der Weg zum Massenmörder ist nicht vorbestimmt, sondern es wird aus Gründen getötet, die unter diesen Rahmenbedingungen als selbstverständlich gelten, so Welzers Ausgangsthese. Dabei erweitert er die oben gestellte Frage um den Gedanken, wie die Gesellschaft ohne weiter darüber nachzudenken an der Ausgrenzung der Juden partizipierte, ohne etwas moralisch Verwerfliches zu tun. Die Gründe dafür sucht er anhand einer detaillierten Fallstudie über die in der Ukraine wütenden Exekutionskommandos des Reserve-Polizeibataillons 45.

 

Welzer sieht drei Mechanismen, die einen zum Täter werden lassen: Die Delegation der Verantwortung, die Entscheidung, einem Befehl nicht zu widersprechen und die subjektive Distanzierung von der Tat. Das führt dann dazu, dass man eigentlich nichts Außergewöhnliches mehr am Töten findet und auch dadurch, dass man versucht, human zu töten, sich auch moralisch nichts vorzuwerfen hat. Im Sinne einer Art situativen Dynamik erklärt Welzer die grausamsten Situationen, die erstens den Vollzug der massenhaften Judenmordes sicherstellte und andererseits die persönliche Lage der Beteiligten nicht überstrapazierte, also das Morden als gar nicht so grausam darstellen, somit auch für die Mörder das Morden humanisierte .

 

Ab 1942 ging das brutale Vorgehen immer mehr in ein geordnetes Verfahren über, die Aktionen hatten einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss: Erst wurden die Juden in Massen festgesetzt und zu einem Erschießungsplatz gebracht, dann mussten sie sich ausziehen vor das Massengrab aufstellen und wurden dann hingerichtet. Die Nachfolgenden mussten sich auf die bereits Getöteten legen und wurden dann erschossen. Den Tätern wurde dabei kaum Zeit zum Nachdenken gegeben. Prinzipiell hatte jeder die Möglichkeit auszusteigen, ohne jegliche Sanktionen fürchten zu müssen. Aber in einer Art situativen Verständigung, in der jeder versucht, sich innerhalb der oftmals heterogenen Gruppe in die Situation des anderen Hineinzuversetzen, wollte man sich diese Blöße nicht geben; warum auch, man tat ja nichts Verwerfliches. Um jedoch etwaiges Nachdenken vorzubeugen, übernimmt in diesen Situationen der Vorgesetzte die Gewalt über die Gruppe, indem er den Zeit- und Handlungsdruck erhöht und durch einen Art Fließbandablauf auf die praktische und technische Ebene aufsteigt, um so jegliche Emotionen aus dem Tötungsablauf zu nehmen. Es entstand der Eindruck, völlige normale Menschen gehen einer völlig normalen Arbeit nach. Versuche einzelner gegen den Genozid, insbesondere gegen Kinder vorzugehen, blieben angesichts der Tatsache, dass sich alles Handeln bereits verstetigt hatte, wirkungslos oder führte lediglich dazu, dass man teilweise anderen (zum Beispiel ukrainischen Milizen) das schmutzige Geschäft überließ.

 

Welzer erstellte die Täterprofile anhand der Untersuchung der Wechselwirkung aus kulturellen und situativen Faktoren. Der Mensch bewegte sich innerhalb eines normativen Referenzrahmen es wird etwas getan, was getan werden muss (Die Endlösung ist gewollt und sinnvoll, auch wenn sie unangenehm ist!?), um den sich das grausame Spiel wiederholte. Die Ausgrenzung und ab 1942 die Vernichtung konnte gar nicht als solche erlebt werden, da es dem Nationalsozialismus ab 1933 in einer unvergleichlichen Geschwindigkeit gelang, die Ausgegrenzten als nicht zugehörig, als nicht mehr präsent darzustellen und es so niemanden näher berührte. Die Ausgrenzung was verinnerlicht. Der Hauptgrund sieht er in einer Art Koordinatenverschiebung innerhalb der Gesellschaft. In einer phantasierten Existenzsicherung in einer konstruierten Welt, muss, um sich zu etablieren und um sich auf Kosten anderer besser positionieren, ja zu bereichern, der andere ausgelöscht werden. Die absolute Einteilung in Zugehörigen und Nichtzugehörigen zu einer Gesellschaft und das Töten als nutzbringenden und Zweck erfüllenden Vorgang brachte einen Prozess ins Rollen, der schließlich sechs Millionen Juden den Tod brachte.

 

In einem Regime, dass unterhalb von Hitler als Leitinstanz von mehreren Machtsäulen getragen wurde, die miteinander verzahnt waren und sich nicht selten bekämpften, die auch vielen Rivalitäten und inneren Konflikten ausgesetzt war, fiel diese Verschiebung auf einen fruchtbaren Boden, der so manches Unrechtbewusstsein verschluckte.

 

Fazit: Ein wichtiges Buch der deutschen Vergangenheitsbewältigung, welches einem in erschreckender Art und Weise die Augen öffnet, wie leicht es ist unter gewissen äußeren Bedingungen zum Massenmörder zu werden (nicht zu unrecht zieht der Autor Vergleiche mit dem allseits bekannten Milgram Experiment). Welzers These, dass durch die Neufestlegung 1933, wer der deutschen Gesellschaft angehört und wer nicht in der Vernichtung der Ausgegrenzten mündete ist ein überzeugendes Argument. Dass dieses Thema kein Beispiel der Historie bleibt zeigen die aktuellen Beispiele in Ruanda und Srebrenica, auch wenn dort der Genozid nicht auf der Rassenlehre basierte sondern ethnisch begründet wurde; ja und das es nicht einmal eines totalitären oder diktatorischen Regimes bedarf, um sinnlos Menschen zu morden, zeigt das aufgeführte Beispiel des Vietnam Krieges. Wer noch Antworten zu offenen Fragen zum schwärzesten Kapitel der Deutschen Geschichte sucht, dem kann ich dieses Buch sehr empfehlen auch wenn man über kein allzu sensibles Gemüt verfügen sollte.

 

Andreas Pickel

4/5 Sterne
4/5 von 5

© 2006 Andreas Pickel, Harald Kloth