Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen
München ; DVA ; 2021 ; 368 Seiten ; ISBN 978-3-570-55477-7
Hitler hat nicht am Nachmittag des 30. April 1945 zusammen mit seiner erst kurz zuvor geehelichten Frau Eva Braun Selbstmord begangen und ist dann seinen vorherigen Anweisungen entsprechend
verbrannt worden, sondern hat den Führerbunker schon vorab verlassen und lebte Jahrzehnte lang unbehelligt in Südamerika!
Derartige Verschwörungstheorien gab es schon immer in der Geschichte, aber die Tatsache, dass sich heute alles quasi in Echtzeit über den gesamten Erdball verbreiten lässt, führt geradezu zu
einem Boom an Fake News und dergleichen. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie mit der Querdenker-Bewegung hat dies nochmals verdeutlicht. Ein geradezu perfektes „Spielfeld“ für
Verschwörungstheoretiker bietet das bereits nach 12 Jahren beendete, einst als tausendjährig proklamierte Dritte Reich. Das dieses Thema auch nach über 75 Jahren aktueller ist denn je, zeigen die
immer wieder neu aufkommenden Gerüchte und Verschwörungsgeschichten mit Beginn des Internetzeitalters und insbesondere der Allgegenwärtigkeit sozialer Medien. Diese Thematik hat nun der
renommierte Historiker und Buchautor Richard J. Evans in seinem neuesten Buch „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“ herausragend aufbereitet.
Der diesen Monat 75 Jahre alt werdende Richard J. Evans war von 1998 bis 2008 Professor of Modern History sowie von 2008 bis 2014 Regius Professor of History an der Cambridge University und gilt
als einer der führenden britischen Historiker zur deutschen Geschichte und insbesondere des Nationalsozialismus. Seine Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie
zum Nationalsozialismus waren bahnbrechend. Neben seinen unzähligen Auszeichnungen ist 2012 die Ernennung zum Ritter durch Queen Elizabeth II. hervorzuheben. Nach seinem 2018 erschienen Buch
„Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch - 1815-1914“ nun das hier vorliegende neue Meisterstück des renommierten Historikers.
Evans untersucht in seinem neuen Buch auf einer unverrückbaren Beweislage, wie man festes Wissen gegen „an den Haaren herbeigezogenen“ angeblichen anderweitigen Fakten verteidigen kann. Der Autor
nutzt dazu fünf markante Ereignissen aus oder im Zusammenhang mit der NS-Zeit, die bis heute in unterschiedlichsten Ausprägungsgraden immer wieder Anlass zu Spekulationen geben: die „Protokolle
der Weisen von Zion“ als angeblichen Beleg einer jüdischen Weltverschwörung, die Dolchstoßlegende mit der Schmach des Vertrages von Versailles, die Mythen um den Reichstagsbrand, Motive des
Englandflugs des Hitler Stellvertreters Rudolf Heß am 10. Mai 1941, über dessen „Treuebruch“ Hitler nie hinweg kam sowie die eingangs erwähnte angebliche Flucht Hitlers aus dem Führerbunker vor
seinem Selbstmord. Diese Begebenheiten unterscheiden sich entweder dadurch, dass sie den Hass auf eine Gruppe schüren (systematische Verschwörung) oder den Verlauf der Geschichte abändern wollen
(ereignisorientierte Verschwörung). Geht es bei den ersten beiden Themen darum, wie die Nationalsozialisten Ereignisse angeblich für ihre Zwecke missbraucht haben, behandeln die dann folgenden
drei Kapiteln Verschwörungstheorien um Geschehnisse der NS-Schergen, die sich erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte herausbildeten.
Verschwörungstheorien sind seit spätestens dem 18. Jahrhundert Teil der Geschichtsforschung und haben laut Evans gemeinsam, dass sie für jedermann verständlich Sachverhalte vereinfacht und
plausibel darstellen. Es werden Beziehungen hergestellt, wo es de facto keine gibt und es werden dafür oft genug auch Fakten verdreht oder gar neu erfunden. Das Ganze noch medial gut aufbereitet
und eine treu glaubende Anhängerschaft ist schnell gefunden (siehe heutzutage mit den Corona-Leugnern). Dabei könnte man glauben, dass derartige Theorien nach Jahrzehnten und auf Basis
wissenschaftlich akkurat erarbeiteten Erkenntnissen zu den realen Geschehnissen und Abläufen abnehmen würden. Weit gefehlt! Stattdessen erleben diese seit Mitte der 50er Jahre über die
Boulevardpresse und dem Fernsehen und spätestens seit dem Einzug sozialer Medien in unseren Alltag im neuen Jahrtausend einen wahren Boom. Es ist somit für den historisch wenig bewanderten „User“
immer mehr herausfordernd, Fakten von Erfundenem zu unterscheiden, mit der Konsequenz, dass die seriösen Wissenschaften ihres auf eben diesen Fakten erstelltes Bild der Geschichte immer und immer
wieder aufs Neue rekonstruieren und verteidigen müssen.
Evans nennt alle seine oben angeführten fünf Beispiele paranoide Phantasien. Es wird erfunden, spekuliert, fantasiert, realitätsfremd in die Glaskugel geguckt, also alles andere, als sich auf
Fakten zu berufen. Die Einfachheit der Erklärungen kumuliert dann, wer von welchen Abläufen der Geschichte profitiert hat und rechtfertigen damit ihren Wahrheitsgehalt.
Mit den „Protokollen von Zion“ wollen die Verschwörungstheoretiker einen stringenten Strang zum Holocaust ziehen. Dem wiederspricht Evans gleich zu Beginn. Hitler war kein Freund derartiger
Verschwörungen, hat sich nie auf diese Protokolle bezogen und nationalsozialistische antijüdische Hetzkampagne war ebenso andersartig ausgerichtet. Hitler bezog stattdessen seine antisemitischen
Anschauungen aus der Propaganda, dass die Juden als Drahtzieher im Verborgenen handelten, um die Gesellschaft aus dem Hintergrund heraus zu spalten. Am 30.01.1939, sechs Jahre nach seinem
Machtantritt, verkündete er basierend darauf mehr oder weniger offiziell im Reichstag die Vernichtung der Juden und setzte dies spätestes ab da manisch um. Dem zur Folge keinerlei Bezug zu den
„Protokollen von Zion“. Dies gilt dann gleichermaßen für das zweite Thema dem sich Evans widmet, der Dolchstoßlegende. Der Blick des NS-Regimes war nicht im Groll dahingehend nach hinten
gerichtet, dass die glorreich kämpfenden Soldaten angeblich unbesiegt von außen von destruktiven sozialistischen Kräften im Inneren des Reichs besiegt wurden (frei nach Friedrich Ebert zu den
heimkehrenden Soldaten: „Kein Feind hat Euch überwunden“), sondern durch den mangelnden Überlebenswillen. Auch, wenn dies ein wesentlicher Aspekt für den Aufstieg der Nationalsozialisten zur
Macht war, so Evans, deren Blick war mehr nach vorne mit der Errichtung eines arisch reinen Volkes mit Lebensraum im Osten gerichtet. Der Reichstagsbrand wiederum war gleichermaßen ein Nährboden
für Gerüchte, die Tat eines einzelnen kann nur einem Komplott zugrunde liegen, so argumentieren die Faktenfälscher. Das Dritte „tausendjährige“ Reich wurde also angeblich basierend auf der
Theorie errichtet, die Kommunisten hätten als einen wesentlichen Schritt zum Sturz der Weimarer Republik versucht, den Reichstag abzufackeln. Ein Beweis für die Beteiligung anderer, z.B.
zusätzliches entzündliches Material, wurde nie gefunden und das Geständnis des Täters, Marinus van der Lubbe, von dem er auch nie abrückte, dass er Allleintäter war, ist ebenso ein zwingender
Beweis. Hitler brauchte den Reichstagsbrand nicht für seine Zwecke. Er und seine Nationalsozialisten hätten ansonsten einen anderen Vorwand als Vehikel ge- oder besser erfunden, um den Notstand
auszurufen und Massenverhaftungen gegen Kommunisten und Sozialdemokraten anzuordnen. Wie aktueller denn je das letzte Thema in Evans Buch um Hitlers angebliche Flucht aus dem Führerbunker ist,
zeigt sich daran, dass darüber in den letzten 20 Jahren mehr Bücher und Filme erschienen sind, als in den über 50 Jahren zuvor.
Verschwörungstheorien sind nicht neu, so Evans, und wie bereits erwähnt spätestens seit dem 18, Jahrhundert Teil der Geschichtsschreibung. Lediglich die Art, sowie Geschwindigkeit und die Medien
der Verbreitung haben sich natürlich stark verändert. Evans zeigt akribisch bis ins letzte Detail auf, von wem sie mit welcher Intention in die Welt gesetzt wurden, wer wie versucht hat,
die Geschichte in diesen Teilen umzuschreiben und daraus einen Nutzen zu ziehen sowie warum sie sich trotz eindeutiger widersprechender Fakten teils bis heute gehalten haben bzw. immer wieder ein
neues Hoch erfahren. Diejenigen, welche Verschwörungstheorien aufbringen stellen Fakten als gefälscht oder erlogen dar und stellen diejenigen, die sich auf Fakten berufen, diese erarbeiten oder
in Erinnerung rufen werden als Verschwörer oder Teil einer Verschwörung hin – dies teils bis zu körperlicher Bedrohung. Evans widerlegt plausibel diese Theorien u.a. auch, in dem er gleiche
Vorgehensweisen beim Entwickeln dieser Theorien identifiziert. Evans validiert dies basierend auf einem immensen Fundus an Literatur und anderen Dokumentationen, die es dem Leser auch ermöglichen
und erleichtern, sich bei Bedarf ein eigenes Bild zu verschaffen.
Basierend auf Erzählungen im 19. Jahrhundert vermischen laut Evans Verschwörungstheorien den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, da es letztendlich irrelevant ist, ob die Einzelheiten einer
Geschichte stimmten, so lange sie die ihnen zugrunde liegende fundamentale Wahrheit ausdrücken. Sie sind meist schwarz oder weiß und es gibt eindeutig die Guten und die Bösen. Das macht ihre
Verbreitung für ein größeres Publikum einfacher und plakativer. Fakten sind dagegen oft komplex, ihre Herleitung manchmal schwer nachzuvollziehen! Deswegen ist es Aufgabe der Historiker, diese
ebenso klipp und klar darzulegen - so wie es eben Evans gelingt.
Evans bekräftigt wie in so vielen seinen Büchern, dass wir durch eine sachliche und distanzierte Schreibweise mittlerweile eine Erinnerungskultur an die dunkelste Zeit Deutscher Geschichte und
seiner Protagonisten haben, die frei von Klischees ist. Fakes im Internet kann man nur mit sorgfältiger Recherche begegnen! Dabei macht uns gerade dieses Werk auch sensibel für aktuelle
Themen.
Fazit: Insgesamt eine bemerkenswerte Aufarbeitung eines anderes Blickes auf unsere Geschichte, einerseits für Geschichtsinteressierte, die sich schon länger mit der nationalsozialistischen Zeit beschäftigen, aber andererseits auch für diejenigen, die einfach über dieses auch spannende Buch einen Bezug zu anderen Themen dieser Zeit und damit zur eigenen Geschichte gewinnen.
Andreas Pickel
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