Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Roman

Berlin ; Suhrkamp ; 2021 ; 763 Seiten ; ISBN 978-3-518-43008-8

 

Buchcover: Ein von Schatten begrenzter Raum
Copyright © Suhrkamp Verlag

Die Geschichte Europas und wie was warum, neben anderen Aspekten, geographisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch zu dem geworden ist, was wir heute vorfinden, das, was wir heute Europa nennen, ist überaus komplex. Hilfreich ist es dabei, wenn Zeitzeugen die Historie und die aktuelle Situation anhand des eigenen Lebenswegs, anhand eigener Erlebnisse, Beobachtungen sowie Erfahrungen reflektieren und mit einem fiktiven Rahmen so wiedergeben, dass daraus ein fesselndes Narrativ entsteht. Das gelingt der renommierten Schauspielerin und Autorin Emine Sevgi Özdamar in ihrem neuesten Roman Ein von Schatten begrenzter Raum herausragend.

Emine Sevgi Özdamar, 75 Jahre alt, wuchs in Istanbul auf und besuchte nach einigen Stippvisiten an deutschen Theaterhäusern zunächst die dortige Schauspielschule. Mitte der 70er Jahre, als sie nach dem Militärputsch von 1971 keine Zukunft mehr als Künstlerin in der Türkei sah, verlegte Sie ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin, zu Beginn Brecht zuliebe nach Ost-Berlin. Der Militärputsch zerstörte all ihre Träume nach Freiheit und Demokratie in ihrem Heimatland, das Multikulti-Berlin war dagegen Balsam auf ihre geschundene Seele. Bis auf einige Intermezzos u.a. in Paris, Avignon und Bochum, blieb sie seitdem auch in Berlin als Regieassistentin. Özdamar, eigentlich Schauspielerin, schrieb schon früh auch Theaterstücke, ist seit Anfang der 80er Jahre auch als freie Schriftstellerin aktiv und veröffentlichte einige von der Kritik durchweg gelobten Romane und Erzählungen. Sie gilt als die bekannteste deutsch-türkische Schriftstellerin und gewann mit ihrem aktuellen Werk u.a. den Bayerischen Buchpreis.

Özdamar erzählt ihre eigene Lebensgeschichte aus der Ich-Perspektive, ohne, dass sie der Protagonistin einen Namen gibt. Nachdem das türkische Militär eine Diktatur errichtet hat, flüchtete sie zunächst auf eine ruhig und beschaulich wirkende Insel in der Ägäis, von wo aus sie einen Blick auf das demokratische Europa hat. Dort beginnt der Roman. Dank ihrer Bewunderung für Brecht und Heine geht sie nach Berlin und lernt dort, im krassen Gegensatz zu den brutalen Wortschwallen in ihrer Heimat, wieder die Schönheiten der Sprache kennen. Ange- oder besser vertrieben von Gewalt und emotionaler Kälte in ihrem Heimaland, geht sie also nach Europa, einem Europa, dass sich für sie aus den Toten zusammensetzt, die sie in der Türkei geliebt hat, also z.B. Brecht, Marx, Heine oder auch Bach und Tucholsky. Eine ihrer ersten Rolle ist die einer türkischen Putzfrau – welches Klischee! Aber Özdamar findet das im Nachhinein nicht weiter tragisch, ihr geht es um den Ausdruck, der künstlerischen Darbietung und nicht die Rolle, die dargestellt werden muss. Auch hat zum damaligen Zeitpunkt die Auseinandersetzung mit Gastarbeitern und Ausländern generell noch nicht begonnen.

Eine junge Schauspielerin geht also, nur mit einer Tasche gepackt ins Ausland, nach Berlin, ein unscheinbares Individuum in der großen weiten Fremde auf der Suche nach ihrem Platz in dieser Welt, auf der Suche nach Anerkennung und Schutz. Dabei wechselt sie über Länder- und Zeitengrenzen hinweg, ist mal Schauspielerin, Regieassistentin oder Regisseurin, dann auch Autorin von Theaterstücken. Es geht überwiegend um das Leben an den diversen Bühnen Europas, die für die Autorin aber nur eine Pause von dem realen Leben darstellen. Das reale Leben ist überwiegend die „Hölle“, also die unmittelbaren Erlebnisse von Diktatur, Gewalt, Terror. Der Roman scheut so auch keine historisch diffizilen Themen anzuschneiden, beginnend beim 1. Weltkrieg, der Genozid an den Armeniern, die Vertreibung der griechisch stämmigen Bevölkerung oder der immer noch virulente Terror gegen die Kurden.

In ihrem Geburtsland fehlt, so Özdamar, das, was auch in Deutschland erst Jahrzehnte später geschah, die intensive Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte. Und dieses mangelnde Bewusstsein, wo man herkommt und wo man hin will, schlägt einem immer wieder zurück ins Gesicht. Nach ihrem Verständnis schreiben erst die Enkel einer Generation die neue Geschichte eines Landes und Ende der 70er Jahre waren diese z.B. in Deutschland ebenso noch nicht geboren, so wie jetzt in der Türkei. Für sie sind folgerichtig, die Jüngeren die Stimmen der Schuldgefühle und die Älteren repräsentieren das Schweigen. Angesichts der ganzen neuen Krisen seit dem Jugoslawien Krieg 1991 kann man deshalb nur konstatieren: „Gut, dass das meine Eltern nicht gesehen haben“. Der jüngeren Generation bleibt also nichts anderes, als sich für ihre Ahnen zu schämen. Auch Deutschland erholte sich nicht so schnell von seinem dunkelsten Schatten seiner Geschichte, der Nazi-Zeit. Trotz einer späten, aber letztendlichen erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung war in manchen Ländern bis vor ein paar Jahren der Frieden mit dem demokratischen Deutschland noch nicht endgültig geschlossen. Ein Bekannter von Özdamar wollte in Paris oder Rotterdam nicht Deutsch sprechen, obwohl er die Sprache beherrscht, weil sonst die Menschen, welche die Sprache hören, damit die Erinnerungen an das Nazi-Deutschland wecken. „Die Nazis sind gestoppt worden, aber vorher haben sie uns Ungeborene noch in ihre Scheiße reingezogen.“ Unbenommen davon hat sie den Eindruck, dass immer noch viele Deutschland als Opfer sehen, obwohl es Millionen sprichwörtlich geopfert hat.

Auch die aktuelle Flüchtlingskrise kommt in vielen Aspekten des Buches zum Tragen. Dies auch immer wieder mit Bezug auf die Tatsache, dass Flüchtlinge, Flüchtlingsströme stets eine Begleiterscheinung europäischer Geschichte waren und, mit Blick zum Beispiel auf den aktuellen Krieg in der Ukraine, auch weiter sein werden. Ebenso wird an Orten, an denen sie vorbeikommt oder verweilt, der Blick in die Zukunft geworfen, z.B. der Terroranschlag auf das Bataclan mit 89 Opfern oder der Anschlag auf den Istanbuler Flughafen 2016. Heute, so die Autorin, ist die Welt wie ein einziges großes ballonartiges Grundstück, in dem die populistischen Führer die Parzellen völlig ignorant untereinander aufteilen, als würde es nur sie geben. Dabei behandeln sie unseren Planeten nicht wie bei einem Ballon notwendig mit Gefühl und Sensibilität, sondern nehmen seine Zerstörung grob fahrlässig in Kauf.           

Özdamar hat eine bildgewaltige Sprache, Schatten werden zu kommunizierenden Figuren, Tiere und Gegenstände sprechen und sie spricht mit ihnen. Gleich zu Beginn wird man gefesselt von einer unheimlich intensiven Beschreibung der Wirkung von drei Winden, so als wenn man auf einem Felsblock am Ufer des Meeres sitzt und diese auf sich wirken lässt. Orte, Zeiten und Geschehnisse vermischen sich ineinander, so wird aus der Zukunft das Jetzt und oftmals die Vergangenheit und umgekehrt wird mit der Weisheit des Rückblicks aus der Vergangenheit auf das Jetzt und die Zukunft geschlossen – einfach fesselnd und stark! Özdamar spricht mit all ihren Sinnen und Instinkten. Ein als Bühnendekoration verbrachter Panther stank für sie prägend nach Lebenslänglich-Gefangensein und Hoffnungslosigkeit. Über 30 Jahre später verband sie dies in einem Café in Istanbul sitzend mit einer von Gefängnis und Folter gezeichneten Frau, die vorüberlief mit einem Polizisten im Rücken – selber Geruch, nach Müdigkeit, gefangen, hoffnungslos. Die Autorin selbst hat Schmerzen beim Schreiben über ihre Kindheit, aber „glückliche Schmerzen“, weil ihr Körper diese Gefühle noch hatte und für das niederschreiben preisgab.

Der Roman ist autobiografisch und nah an der Realität, aber angefettet um Träume und Visionen sowie Fantasiewelten mit sprechenden Tieren. Dieser Wechsel von Surrealem und realem Alltag, der Kontrast von simplen Situationsbeschreibungen und Gefühlen gibt dem Buch eine entscheiden Note – Kunst in Verbindung mit realer Politik kann auch erotisch sein. Er enthält somit die Kunst der Autorin, aber auch eine wunderschöne Beschreibung von einem erfüllten Leben mit der Kunst in vielerlei Variationen – während sie die Liebe zur Kunst heimatlos machte (sie stellt sich selbst immer wieder die Frage: Wo kann ich leben? Wo bin ich Zuhause?), ist die Kunst ihre Heimat. Sie lebt in den kleinen schönen Erlebnissen und Augenblicken in ihrem Leben und lässt sie lächeln. Auch kurze Dialoge reichen, um die gesamten Impressionen einer Stadt wiederzugeben. Zum Beispiel, dass man in Paris nicht zu Hause sitzen darf, sondern wegen seinen Schönheiten ständig spazieren gehen muss, während man in Berlin lieber mit dem Taxi fährt, damit die Hässlichkeiten der Stadt schnell an einem vorüberziehen oder man sie erst gar nicht wahrnimmt. Besondere Schlüsselereignisse in ihrem Leben werden mehrmals in dem Roman wiederholt und bleiben so prägend. Es bleibt dann dem geneigten Leser zu entscheiden wo befinde ich mich im surrealen Erfundenem und wo in den real erlebten Erinnerungen.

Apropos Taxifahren, eine nette Episode im Buch ist, als die Autorin feststellt, dass beginnend ab den 90er Jahren Taxifahren wegen dem ständigen Lamentieren der Fahrer über Muslime so anstrengend wurde, dass sie mit den Gedanken „die kommenden Kriege sind Religionskriege“ bereits lange vor dem Ziel ausstieg. In den 70er Jahren war Taxifahren dagegen noch ein Genuss, weil die weltpolitische Lage durchgehend ruhig war und der Fahrer über die besten Restaurants in Paris sprach. Die französische Sprache brachte sie sich übrigens autodidaktisch bei.

Der Buchtitel entstand aus einer Beobachtung beim Sex, als sich zwei liebende und miteinander vermengte Köper zu einem Schatten verbanden, alles andere blieb schattenlos. „Deswegen sah es nur dort, wo unsere Schatten gewachsen waren, wie ein Raum aus, ein von Schatten begrenzter Raum, der sich mit Leben erfüllte“. Die Frage bleibt deshalb am Ende, was will uns Özdamar mitgeben oder ist es nur eine Beschreibung der eigenen Wege zur Identität? Sicherlich mutig sein, sich so weit vom Mutterhaus zu lösen, unbeirrt seinen Weg gehen, auch wenn es Rückschritt gibt, kritisch bleiben, auch wenn es einem zum Nachteil werden kann… . Ebenso vermittelt sie uns sicherlich das Gefühl von Fremdsein in einer kulturell anderen Welt, aber auch das Fremd(gemacht)werden von dieser anderen Welt. Wenn man seine Heimat verlassen hat, ja, verlassen musste gibt es wohl keine Heimat mehr in einem anderen Land, trotzdem schämt sie sich für das, was die Menschen an den Orten, an denen sie sich gerade befindet in der Vergangenheit angerichtet haben oder gerade anrichten. Aber, man soll nicht jetzt über die Katastrophe am Jüngsten Tag philosophieren, sondern über das jetzt und heute reden. Das Buch wirkt wie ein Orkan auf den Leser, aber keiner, der Angst macht. Ein Orkan durch ein erfülltes Leben, durch Gedichte, Tönen und Stimmen sowie Beschreibungen, auf Französisch, Türkisch und Deutsch und das alles mit einer spürbaren unheimlich nahen Gefühlswelt wie selten erlebt in der deutschen Literatur.   

 

Fazit: Autobiografischer und bildgewaltiger Roman.

 

Andreas Pickel

4 Sterne
4 von 5

© 2022 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Suhrkamp Verlag

 

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