Roberto Saviano/Giovanni di Lorenzo: Erklär mir Italien!

Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?

Köln ; Kiepenheuer & Witsch ; 2017 ; 264 Seiten ; ISBN 978-3-462-04971-8

 

Ca. 6 Millionen Deutsche verbrachten 2017 ihren Urlaub in Italien, einem Land, das gerade in der deutschen Öffentlichkeit und Teilen der Politik als chaotisch, korrupt, wenig strebsam und machohaft wahrgenommen wird. Unterstrichen wird diese Sichtweise dadurch, dass erst kürzlich der italienische Staatspräsident erneut das Parlament aufgelöst und damit den Weg für Neuwahlen am 4. März 2018 freigemacht hat.

Alleine in der derzeitigen fünfjährigen Legislaturperiode hat Italien drei Regierungen erlebt: 2013 kam der Sozialdemokrat Enrico Letta ins Amt; dieser wurde von Renzi abgelöst, der wiederum von Gentiloni. So oder so: Es wird die 65. Nachkriegsregierung in Italien – eine Zahl, die in Europa unübertroffen ist und so scheinbar sinnbildlich für Regierungschaos steht.

In Deutschland gibt es seit 1945 acht Regierungschef, von Konrad Adenauer bis zur heutigen Kanzlerin Angela Merkel, in Österreich ist Sebastian Kurz der 13. seiner Art. In Grossbritannien gab es 14 Premiers, in den Niederlanden 16. Und im schönen Italien? Amtsinhaber Paolo Gentiloni ist bei 64 Regierungen «nur» die Nummer 28 seines Landes, denn unter den Männern, die sich im Palazzo Chigi in Rom in der Staatsführung abwechselten, kehrten viele wieder zurück – und wieder und wieder, weil das Wahlsystem des Landes Kleinparteien und Koalitionswechsel bis heute begünstigt. So führte der Christdemokrat Alcide de Gasperi bis 1953 ganze acht Koalitionen, er war insgesamt 2496 Tage im Amt. Ihm folgt der Parteikollege Giulio Andreotti, der zwischen 1972 und 1992 insgesamt 2.226 Tage als Premier erlebte. Doch den Rekord hält einer, der Italiens Politik trotz 81 Jahren noch immer beschäftigt: Silvio Berlusconi mit 3.297 Amtstagen.

Soweit zu den politischen Fakten. Aber warum ist dort alles anders wie im Rest Europas, gibt es dafür irgendwelche Erklärungen? Wer sind die entscheidenden Kräfte im Hintergrund? Was treibt die Deutschen das ganze Jahr über immer wieder über die Alpen in den Urlaub, trotz vermeintlichem Chaos dort? Dies versuchen Roberto Saviano und Giovanni di Lorenzo in ihrem ersten gemeinsamen Buch „Erklär mir Italien! Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?“ aufzugreifen und im dialogischen Prinzip zu erklären.

Di Lorenzo, deutsch-italienischer Herkunft und „deutsch-sozialisiert“, Chefredakteur der Zeit und Autor mancher Bestseller ist der Interviewer und Fragensteller, Saviano, weltweit bekannt geworden durch seinen Weltbestseller „Gomorrha“, der Antwortgeber und Erklärer. Gemeinsam versuchte man sich so in mehreren längeren Gesprächen, die sich insgesamt über zwei Jahre erstreckten, dem „Problemkind Italien“ zu nähern. Italien ist wirklich ein Land zwischen wunderbar, sonderbar und Gomorrha. So berichten die Autoren von der Gastfreundlichkeit der Italiener, dem Reichtum an Geschichte und Kulturgütern und ganz aktuell dem Umgang mit der Flüchtlingskrise, aber auch über manch nette Charakterzüge eines trotz allem stolzen Volkes. Vor allem die Antworten Savianos sind teils komplex und so verschlungen wie eine große Portion Spaghetti, dann aber auch wieder so nah wie einfach. Allerdings schweift Saviano sehr oft in sein „Spezialgebiet“, die Mafia, bzw. das Leben in Italien unter dem Deckmantel mafiöser Strukturen mit Bezug auf seine persönliche Situation hin ab. Dies muss auch Teil eines derartigen Buches sein, nur sind die Einflüsse der drei Mafia Gruppierungen Camorra (Neapel und Kampanien), N’Drangheta (Kalabrien) sowie Cosa Nostra (Sizilien) verhältnismäßig zu lang und zu ausführlich, sie nehmen fast ein Drittel des Buches ein, werden vielleicht sogar überbewertet. Saviano unterstreicht die Machtlosigkeit bzw. auch den mangelnden Willen des Staates, gegen die Mafia vorzugehen. Erwähnenswerter couragierter Widerstand von Einzelpersonen und Gruppierungen bleiben von ihm unerwähnt. Sicher legt Saviano bewusst den Schwerpunkt seiner „Erklärungen“ auf den stärker mafiadurchzogenen Süden, da vor allem hier das Unlogische, Verständnislose, das Unordentliche in Form von Ignoranz gegen staatliche Obrigkeit, Chaos, Korruption und anderen Verbrechen lokalisiert sind. Hier ist der (rechts)staatsfreie Raum, aber die Grenzen in den Norden sind fließend.

Wir erfahren, dass Italien noch mehr als Deutschland ein Land der unterschiedlichen Regionen ist, Unterschiedlichkeiten nicht nur in Bezug auf Mentalitäten die oft auch in Neid und Missgunst ausarten. Aber wenn es gegen die Zentralregierung geht, wird oftmals auch „unter den Abtrünnigen koaliert“, gemeinsam agiert. Diese Art der Hassliebe findet sich auch im Bereich der Bürokratie im öffentlichen Dienst oder auch in der und mit der Kirche. Nur eines scheint Italien wirklich zu vereinen: Fußball! Politik, politische Autoritäten, außer vielleicht Aussagen des Präsidenten, niemanden interessiert oder respektiert dies so richtig. Familie, sei es verwandtschaftlich oder im weitesten Sinne auch Mafia, Vereine oder sonstige Gruppierungen sind die relevanten Taktgeber. Deren Regeln stehen über dem Gesetz. Derjenige, der das Gesetz am Besten unterminiert, über das Ohr haut, ist als „Leader“ oder „Capo“ anerkannt. Das gilt gleichermaßen für die Politiker, die man wählt, weil sie selbst gesetzeslos sind. Man wählt also Spiegelbilder oder Gleichgesinnte! Für den Mezzogiorno, also den Süden Italiens sieht Saviano sogar – und jetzt sollten die Anhänger der Rechtspopulisten in Deutschland am besten weghören – die Migranten als Hoffnung und Rettungsanker, würden sie doch die entvölkerten Regionen reaktivieren. Kann man daraus auch eine Lösung für die entvölkerten Regionen im Osten Deutschlands ziehen?

Ist es zu akzeptieren, dass viele Deutsche weder die italienische Sprache und schon gar nicht die Italiener bzw. das politische und gesellschaftliche Italien verstehen, sondern nur das gute Essen, die Unbeschwertheit, das angenehme Klima, die Kultur und die Schönheiten der Landschaften schätzen und genießen? Ein klares nein, wenn man das Gespräch zwischen Saviano und Di Lorenzo aufmerksam liest. Es ist ein klarer Appell auch an uns, den deutschen Touristen, sich mehr über das gesellschaftliche und politische Italien zu informieren und zu interessieren, dafür mehr Verständnis für „dieses oder jenes“ aufzubringen, bevor man den Brenner über- oder den Gotthard-Tunnel durchquert.

„Neapel liebt man oder hasst man, es gibt nichts dazwischen“, ist ein altbekannter Spruch. Meines Erachtens kann man das ganz allgemein auf Italien beziehen, zumindest auf den gesamten Mezzogiorno. Und ich für meinen Teil liebe Neapel, liebe Italien in all seinen Facetten. Die Mafia ist heutzutage für uns Normalbürger unerkannt, mit Taschendiebstahl oder Wohnungseinbrüchen gibt sich die Mafia nicht ab. Das ist anderen Gruppierungen zuzuordnen und wird von der Mafia selbst bekämpft, um den „big business“ nicht zu stören. Nichtsdestotrotz teile ich die Skepsis Savianos für die Zukunft des „Landes, wo die Zitronen blühen“. Wenn jährlich 100.000 Italiener, überwiegend aus den höheren und intellektuellen Kreisen, emigrieren, gleicht das einer Flucht vor der Zukunft im eigenen Land. Auch ist unbestritten die Mafia attraktiv für junge Leute, gerade bei einer derart hohen Arbeitslosigkeit. Es gilt immer noch als Männlichkeitsbeweis, für das, was man erreichen will ins Gefängnis zu gehen oder gar zu sterben. Die Idealisierung des Todes macht die Mafia unverändert interessant.

Das dem Buch zugrunde liegende Gespräch hat insgesamt mehr Höhen als Tiefen, für eine besseres Gesamtverständnis wäre der eine oder andere Blick in die italienischen Geschichte hilfreich gewesen wäre. Es bietet wahrlich einige nette Klischees, z.B., dass Komplimente über das Essen automatisch dazu führen, dass man von nun ab mit dem Koch befreundet ist, aber dies dazu führt, das jeder Italiener Tausende von („oberflächlichen“) Freunden hat. Trotz Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit, gespart wird nichts und nirgends, schon gar nicht am gediegenen 3-Gänge Menü im Restaurant. Man genießt wenigstens das, was man hat. Der Italiener handelt eher situativ, aus dem Bauch heraus, während wir alles planen möchten, am Liebsten von der Geburt, über eine erfolgreiche Schulzeit, Karriere machen und Familie gründen, über die Rente bis in den Tod. Aber auch ernste Themen immer noch vorhandener krankhafter Eifersucht, Stalking oder gar Feminizid bei Untreue werden zumindest kurz thematisiert. In Italien sieht man sich auch niemals direkt in die Augen, höchstens den Freunden, die einem die Erlaubnis dazu erteilt haben. Zweifelhaft sind so Pauschalisierungen, dass man in Italien nur mit Fleiß und Talent keine Karriere machen kann, sondern immer nur über Beziehungen weiterkommt. Es wird auch nur der gewählt, der mir persönlich weiterhelfen kann. Amüsant aber erschreckend sind auch Aussagen, dass niemand Gesetze respektiert, sondern nur Regeln. Regeln, die nicht der Staat, sondern die „Familie“ aufstellt, also Gruppierungen, wie Vereine, Interessensgruppen, Mafia.

Manche Aussagen in dem Buch, z.B. dass diejenigen, die sich für Politik engagieren wollen lediglich „Raubtierfutter“ sind für Presse und Bevölkerung, dass Politik nur die Bühne für Selbstdarsteller ist, der völlige Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Einrichtungen, dass der Staat völlig teilnahmslos und fremdgesteuert ist, gehen meines Erachtens zu weit und sind zu sehr „/Schwarz-Weiß-Malerei“/. In der italienischen Politik wird offensichtlich auch nur gelogen, um kurz die volle Aufmerksamkeit zu haben. Wenn sich dann herausstellt, es war die Unwahrheit, interessiert es niemanden mehr, aber man war auf den Titelseiten. Die Leute vergessen schnell, werden gekauft, lassen sich verführen, werden neu belogen, aber sie verlieben sich auch immer wieder. 65 Regierungen, 28 Präsidenten, das kann ebenso keine Kontinuität bedeuten, es werden nur die größten Löcher gestopft. Auch Renzi wird durch Saviano ein schlechtes Bild ausgestellt: kein Charisma, fehlendes intellektuelles Format, trifft die Gefühle der Menschen nicht.

Nur am Ende erwähnt Di Lorenzo ganz kurz die positiven Seiten des Landes, z.B. das gemeinsame Anpacken bei Naturkatastrophen wie bei Erdbeben oder die Hilfsbereitschaft der Menschen der von Flüchtlingen überrannten Insel Lampedusa. Insgesamt ist er verliebt in das „Ästhetische“, das Italien bietet. Aber bei Saviano bleiben selbst die realen positiven Veränderungen im Verhalten der Mafia gegenüber weitestgehend unberücksichtigt. Immer wenn Di Lorenzo Positives anspricht, wird es durch Saviano schlecht geredet. Liegt es vielleicht an der Verbitterung über ein Land aus dem heraus Gruppierungen ihm den Tod androhen? Man hätte vielleicht nicht nur einen Dialog als Grundlage nehmen sollen, um Italien „zu erklären“. Hier wäre gegebenenfalls eine Gesprächsrunde besser gewesen, um das Thema umfassender anzugehen als nur mittels der Sichtweise eines Einzelnen. Eine Aussage Savianos würde ich allerdings blind unterschreiben: Italien ist bunt, elegant, und chauvinistisch, boshaft und verlogen. Wie bereits festgestellt, die Leidenschaft für Fußball hält alles zusammen. Leider war das Buch fertiggestellt, bis feststand, dass Italien die Qualifikation für die Teilnahme an der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 gegen Schweden verpasst hat. Wer weiß, vielleicht wäre Saviano’s Urteil dann anders ausgefallen. Aber trotz aller manch harschen Kritik, wird er für immer und ewig sein Italien, sein Neapel lieben und aufs engste verbunden bleiben.

 

Fazit: Italien ist bunt, elegant, und chauvinistisch, boshaft und verlogen.

 

Andreas Pickel

3 Sterne
3 von 5

© 2018 Andreas Pickel, Harald Kloth