Roman
München ; C.H. Beck ; 2024 ; 130 Seiten ; ISBN 978-3-406-81377-1
In unzähligen Büchern zu Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes liegt der Schwerpunkt darauf, deren gesamte Grausamkeit in einer möglichst martialischen und schreckenerregenden Sprache
darzulegen. Meist geht es um die Erfahrung und den Umgang mit Gewalt in einem durch Kriegserfahrungen stimulierten Umfeld. Ja, Krieg ist grausam, das sieht man derzeit auch wieder an den Bildern
über das Leiden in der Ukraine oder im Nahen Osten. Aber Krieg und Völkermord kann auch Jahrzehnte danach in einer anderen entgegengesetzten Art und Weise gerade die Psyche belasten. Das ist
dann, wenn man gewohnt ist, Fakten, alles, was einen auch nur im Entferntesten betrifft zu kennen und somit auch keine Zeit damit verbringen muss, über irgendetwas nachzudenken, aber man dann
urplötzlich Ungereimtheiten und Lücken in den vermeintlichen Fakten erkennt, die man nicht erklären und auflösen kann. Dieses Gefühl vermittelt in eindringlicher Manier Laura Lichtblau in ihrem
sprachlich herausfordernd geschriebenen (Tage-)Buch: »Sund«.
Laura Lichtblau, knapp 40 Jahre, ist freie Autorin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Neben »Sund« publizierte sie zwei Bücher, 2017 ein Kinderbuch und 2020 den Roman »Schwarzpulver«.
Die Autorin erzählt in der Ich-Form und befindet sich im Spätsommer auf Urlaub am „Sund“. Ein Sund ist in skandinavischen Ländern die Bezeichnung für eine Meerenge. In dem vorliegenden Roman, der
in einer Meerenge zwischen Schweden und Dänemark spielt, dürfte es sich somit um den „Öresund“ handeln.
Dabei erzählt sie ihrer namentlich und auch ansonsten nicht näher bekannten Geliebten, einem „Du“, ihre Eindrücke, Empfindungen, Erlebnisse von ihrem Urlaub auf einer Insel am Sund. Wer nun
glaubt, es handelt sich um eine entspannte, mit Meeresrauschen unterlegte Strandlektüre, liegt komplett falsch.
Der Grund, dort Urlaub zu machen sind Nachforschungen über den Urgroßvater der Erzählerin, erst später erfahren wir, er heißt Max Lange, der eigentlich als Orthopäde im Nationalsozialismus tätig
war. Auf ihrem Arbeitstisch im Zimmer der Unterkunft stapeln sich Aktenordner voll mit historischem Material, Briefe, Fragebögen und ein Buch ihres Großvaters. Nach und nach entwickelt die
Geschichte nun einen Sog auf den Leser, der einem das Buch nur mit kurzen Zwischenpausen lesen lässt.
Die (bi-sexuelle) Autorin wartet auf ihre Geliebte und als die nicht kommt begibt sie sich auf die zum Urlaubsort nahegelegenen Insel Lykke und lernt auf der Überfahrt die „Neue“ kennen. Dort in
Lykke finden beide Unterkunft im dortigen Ferienheim einer sektenähnlichen Esoterik-Gemeinschaft. Da beide Frauen als fremd auf der Insel gelten, ja sogar als Hexen bezeichnet werden, werden sie
zu einer Art Verbündete in der Fremde. Auf dieser Insel lag die berüchtigte, 1911 gegründete Moorske Anstalt, in der in den Augen der Gesellschaft als unproduktiv oder homosexuell gebrandmarkte
Menschen einkaserniert wurden. Die Inselbewohner schweigen heute noch darüber, versuchen zu vertuschen und beobachten mit Argwohn die Recherchen der Autorin.
Die Erzählerin verbindet nun mühsam, aber damit umso Schmerzhafter die Geschichte der Insel mit ihrer Familiengeschichte, spiegeln sich doch darin die Grausamkeiten der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts wider. Die Autorin findet heraus, dass ihr Urgroßvater, eigentlich „nur“ Orthopäde“, dem Beirat von Karl Brandt angehörte, dem mächtigsten Mediziner in der NS-Diktatur und
Protagonist des Euthanasie-Programms, in Rahmen dessen zig-tausende Menschen ermordet wurden. Daneben war ihr Urgroßvater Mitglied der NSDAP und in vielen Verbänden, wie NS-Ärztebund oder auch
der „Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Pflege und Erforschung des Deutschtums“, die seine Haltung als strammen „Regime-Mediziner“ unterstreicht. Auf 30 Seiten taucht die Autorin nun immer
tiefer in die grausamen medizinischen Forschungsprogramme der Nazis hinein: „Karl Brandt war Leiter des Euthanasieprogramms. Mein Urgroßvater war Teil seines Beirats. Mehr weiß ich
nicht.“ So lautet jedenfalls ein Zwischenfazit, einen Beweis für oder gegen eine aktive Beteiligung ihres Urgroßvaters, nach dem Jahrzehnte nach dem Krieg ein Platz in Bad Tölz benannt
wurde, findet sie nicht. Ihre Absicht, mit den Recherchen auch die Geister, die sie bei diesem Thema umschweben zum Schweigen zu bringen, gelingt ihr also nicht vollumfänglich. Ein Buch, welches
ihr Urgroßvater geschrieben hatte als Grundlage nehmend, recherchiert sie akribisch alles Mögliche über die Beiratsmitglieder Brandts und deren Projekte mit Menschenversuchen. Konkrete
unmenschliche Aktivitäten, an denen ihr Urgroßvater beteiligt war, findet sie jedoch nicht. Sie umkreist so das Thema, schließt lediglich einige aber bei weitem nicht alle Lücken und schafft es
letztendlich so nicht, an den Kern der Wahrheit zu gelangen. Aufgrund vieler Unklarheiten letztendlich in all den historischen Dokumenten bleibt vieles nur eine Art vage Ahnung. Danach kehrt sie
an den Sund zurück, bis sie schließlich auch diese Insel wieder verlässt.
Lichtblau gelingt es exzellent, eines der düstersten Kapitel der eh schon dunklen Zeit des Nationalsozialismus mittels eines Romans über einen Inselaufenthalt zu rekonstruieren. Am Beispiel der Insel Lykke verbildlicht sie eine Insel als Obergriff von separiert sein vom Normalen, sinnbildlich für das Euthanasieprogramm, die schweigenden Inselbewohner stehen sinnbildlich für Millionen von Menschen, die im NS-Regime vom Judenmord nichts gesehen und gehört haben möchten, geschweige denn beteiligt gewesen sein sollen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte dann in vielen Familien, ja gesamtgesellschaftlich kollektiv das Vergessen ein. Für uns alle steht dieser Roman!
Die Morde des NS-Regimes waren nicht zu vertuschen, aber all die grausamen Details, die Täter, meist ganz normale Bürger wie du und ich, kamen erst durch akribische Recherchen einiger weniger Historiker aber auch Familienangehöriger von NS-Größen und ermordeten Juden ans Licht. Das Ganze verpackt Lichtblau lyrisch und poetisch, für manchen vielleicht in Teilen in zuviel Prosa, zu verspielt.
Lichtblaus Büchlein ist beeindruckend in seinen Natur- und Situationsbeschreibungen und in ihrer sehr bildhaften Charakterisierung der Menschen in ihrer Umgebung. Die Mischung aus Erzählung und Rechercheergebnissen, aus Beschreibungen der Umwelt sowie des Umfelds der Erzählerin und ihrem Innenleben, ist selten so interessant und fesselnd gelungen. Lichtblau gelingt es mit ihrem Buch auch damit beizutragen, dass eben nicht die Gespenster der dunklen Vergangenheit verschwinden, sondern real, greifbar bleiben.
Es ist schwer zu sagen, was genau der Roman ist – eine klassische Darstellung einer Familiengeschichte jedenfalls nicht. Was war, darf nie wieder sein, möchte man im Sinne Lichtblaus sagen. Lichtblau will sie diejenigen hervorheben, die für millionenfaches Leiden gesorgt haben. Nicht aus Ehrerbietung natürlich, sondern, um sicherzugehen, dass die Leidbringer dieser Welt sich nie wieder erheben.
Fazit: Ein nicht immer einfaches, doch wunderbar zu lesendes Büchlein über Vergangenheitsbewältigung, Vergessen und auch Vertuschen von Verstrickungen von Verwandten und Bekannten des Ansehens willens. Aufmerksam beobachten und das aufgefasste unaufgeregt aber doch lesenswert zu Papier zu bringen, können nur wenige. Lichtblau kann es!
Andreas Pickel
© 2024 Andreas Pickel, Harald Kloth, Cover: Copyright © Verlag C.H. Beck
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